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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Amtsgerichtsrat.«
    »Blutrot«, sagt der Richter ... »als ob die Meerjungfern alle auf einmal menstruieren. Alle auf einmal!«
    »Die Meerjungfern menstruieren nicht«, sage ich ... »Sie irren sich, Herr Amtsgerichtsrat ... das Meer hat sich bloß erschreckt.«
    »Vor wem denn?« fragt dann der Richter ... »Vor den Engländern?«
    »Nein«, sag' ich dann ... »vor der Sonne.«
    »So«, sagt dann der Richter, »also vor der Sonne. Und wie erklären Sie sich dann die rote Farbe, Herr Finkelstein?«
    »Schamröte«, sag' ich. »Meerjungfern gibt es nicht. Es gibt nur das Meer. Das Meer ist die Jungfrau. Und zwar eine keusche Jungfrau. Und die hat sich erschreckt, weil die freche Sonne sie im Schlaf überrascht hat.«
    »Sind Sie ein Dichter, Herr Finkelstein? Etwa ein verhinderter?« Der Richter lacht. Aber das kümmert mich nicht. Seine Bierseele versteht die meine nicht. Dabei gab es doch in seinem Land einen Goethe und einen Schiller!
    Einmal sprach er mit mir über Max Schulz. »Der Fall interessiert mich, Herr Finkelstein! Sie haben ihn also wirklich gekannt?«
    »Ja. Sehr gut sogar.«
    »Und er ist spurlos verschwunden?«
    »Spurlos!«
    »Sowas gibt es nicht. Irgendwo sind Spuren! Bloß die richtige Spürnase fehlt. Das ist der Haken!«
    »Interessiert Sie der Fall wirklich?«
    »Ja. Sehr!«
    Hab ich dir schon den Rabbi vorgestellt, lieber Itzig? Nein, noch nicht. Der ist kein Kunde von mir. Schläft aber zufällig über meiner Koje. Also: mein Schlafnach bar!
    Wir unterhalten uns oft flüsternd vor dem Einschlafen:
    »Herr Finkelstein! Sind Sie noch wach?«
    »Ja, Rabbi!«
    Der Rabbi ist kein wirklicher Rabbiner, bloß ein sehr frommer Mann, der sich den Beinamen ›Rabbi‹ ehrlich verdient hat. Stell ihn dir vor: ein großer, etwas beleibter Mann, im langen, schwarzen Obergewand, das auch Kaftan genannt wird ... helle, kluge Augen, die immer ein wenig spöttisch blicken, aber nie boshaft, ein graumelierter Bart, schwarz und grau, ein blasses Gesicht, eingerahmt von einem pelzverbrämten Hut, den er auch in der Sonne trägt. Ob er den Hut nachts absetzt? Ich weiß es nicht. Er schläft über mir, und ich höre im Dun keln nur seine Stimme. Ich nehme aber an, daß er nicht in seinem Pelzhut, sondern bloß mit rundem, schwarzem Käppi schläft.
    »Rabbi! Wie haben Sie in diesem Aufzug den Krieg überlebt? Wie konnte sich einer im Kaftan verstecken?«
    »Im Wald hab ich den Krieg überlebt, Herr Finkelstein. Im polnischen Wald.«
    »Also ... ein Waldjude?«
    »Ja, ein Waldjude.«
    »Und der Bart?«
    »Dort durfte ich auch den Bart tragen.«
    »Im Wald?«
    »Ja, im Wald.«
    »Was war das für ein Versteck?«
    »Ein Bunkerversteck.«
    Der Rabbi stammt aus Kolomeija. Galizien. Einmal sagte ich zu ihm: »Meine Eltern haben in Galizien gewohnt, bevor sie nach Deutschland kamen. Nicht weit von Kolomeija."
    »Wo denn?«
    Ich sagte: »In Pohodna. Meine Eltern hatten mir viel von Pohodna erzählt.«
    »Pohodna kenn' ich. Ach ja ... die Finkelsteins aus Pohodna. Hab ich gekannt.«
    »Chaim Finkelstein und Sara Finkelstein?«
    »Nein. Die hab ich nicht gekannt. Die waren nicht mehr da, als ich nach Pohodna kam. Aber den Moische Finkelstein, den hab ich noch gekannt. Und der hatte einen Bruder, den Chaim Finkelstein, einen, der nach Deutschland ausgewandert ist.«
    »Das war mein Vater.«
    »So? Ihr Vater?«
    »Ja.«
    »So ... ja.«
    »Und Sie haben also meinen Onkel gekannt, den Moische Finkelstein?«
    »Ja, den hab ich gekannt.«
    »Ich hab ihn nicht gekannt. Wir haben uns nie besucht.«
    »Ja«, sagte der Rabbi.
    »Der Moische Finkelstein?«
    »Den haben die Deutschen vergast. Auch seine Frau, die Rifka Finkelstein. Und die 12 Kinder. Und deren Kinder. Eine große Familie.«
    Ich sagte: »Ja.«
    Und der Rabbi sagte: »Ja.«
    Und ich sagte: »Ja.«
    Und der Rabbi sagte: »Aber einer ist noch da ... von den Finkelsteins ... außer Ihnen natürlich ... noch einer ist da ... Ihr Vetter, der Ephraim Finkelstein ... den nannten sie Froike. Froike Finkelstein.«
    »Der Sohn von Moische Finkelstein?«
    »Ja. Der Sohn von Moische Finkelstein. Und von Rifka Finkelstein."
    »Dann hat er mehr als 12 Kinder gehabt. Dann hat er 13 gehabt?«
    »Ja, 13«, sagte der Rabbi.
    Ich sagte: »13«. Und dachte: Das ist eine böse Zahl. So wie die Sieben!
    »Und wo ist mein Vetter Froike Finkelstein ... jetzt? Unterwegs nach Palästina?«
    »Nein. Der ist noch in Polen. In Pohodna. Hab ihn nach dem Krieg getroffen. Sprach mit ihm.«
    Ich sagte:

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