Der Nebel weicht
seltsamer Intensität zu. In der Stille drangen die Worte scharf und laut zu Corinth herüber: „… weil wir die ewigen Prinzipien des Lebens vergessen haben, weil wir es zuließen, daß sie uns betrogen, weil wir alle auf die Eierköpfe gehört haben. Ich aber sage euch, es ist nur das Leben selbst, das vor dem großen Einssein Bestand hat, in dem alle eins sind und das alle umfaßt. Sehet, ich verkündige euch das Wort des zurückgekehrten …“
Corinth bekam eine Gänsehaut, und er machte einen großen Bogen um die Ecke. War das ein Missionar vom Kult des Dritten Baal? Er wußte es nicht und hatte keine Lust anzuhalten, um es herauszufinden. Kein Polizist in Sicht, um es zu melden. Es würde eine Menge Ärger und Probleme geben, falls die neue Religion hier in der Stadt viele Anhänger fand. Es beruhigte ihn ein wenig, als er eine Frau sah, die in eine nahe gelegene katholische Kirche ging.
Ein Taxi raste auf zwei Rädern um eine Ecke, streifte einen parkenden Wagen und war gleich darauf wieder lärmend verschwunden. Ein anderer Wagen kroch langsam die Straße hinunter; der Fahrer zeigte ein verzerrtes Gesicht, sein Mitfahrer hielt eine Schrotflinte.
Auf beiden Straßenseiten waren die Läden verbarrikadiert, nur ein kleines Lebensmittelgeschäft hatte geöffnet, aber der Eigentümer trug eine Pistole am Gürtel.
In dem düsteren Eingang eines Apartmentblocks saß ein alter Mann und las mit einem seltsamen, besessenen Hunger, der ihn alles um sich herum vergessen ließ, Kants Kritik.
„Lieber Herr, ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.“
Corinth sah die Gestalt an, die sich aus einem Hauseingang geschoben hatte. „Tut mir leid“, antwortete er. „Ich habe nur zehn Dollar dabei. Kaum genug für eine Mahlzeit, bei den heutigen Preisen.“
„Mein Gott, ich kann keine Arbeit finden.“
„Gehen Sie zum Rathaus. Dort gibt man ihnen Arbeit und etwas zu essen. Sie brauchen dort dringend Leute.“
„Dieser Kram? Straßen kehren, Müllabfuhr, Lebensmittel in die Stadt kutschieren – lieber verhungere ich!“
„Dann hungern Sie!“ stieß Corinth hervor und setzte seinen Weg rascher fort. Das Gewicht des Revolvers, der seine Manteltasche nach unten zog, war beruhigend. Nach allem, was er gesehen hatte, hatte er wenig Mitleid mit diesem Typ von Menschen.
Obwohl – konnte man überhaupt etwas anderes erwarten? Man nehme einen typischen Bürger, einen Fabrikarbeiter oder Büroangestellten. Sein Verstand ist zu einer Sammlung verbaler Reflexe abgestumpft, seine Zukunft eine Plackerei von Tag zu Tag, die ihm nicht mehr bietet als die Möglichkeit, sich den Bauch zu füllen oder durch Kino und Fernsehen zu betäuben – immer größere Wagen, immer mehr Kunststoff, aufwärts und vorwärts im American Way of Life.
Selbst schon vor der Veränderung hatte eine innere Leere, eine Hohlheit, in der westlichen Zivilisation existiert, das unbewußte Wissen, daß es im Leben mehr geben sollte und mußte als das kurzlebige Eigeninteresse – aber das Ideal hatte sich nirgendwo angedeutet oder gar gezeigt.
Dann, plötzlich, fast über Nacht, hatte sich die menschliche Intelligenz zu phantastischen Höhen gesteigert. Eine völlig neue Welt tat sich vor den Menschen auf, Visionen, Erkenntnisse, Einblicke brodelten ungebeten in ihnen. Man sah die elende Unzulänglichkeit seines Lebens, die Trivialität der Arbeit, erkannte die Begrenztheit und Bedeutungslosigkeit aller bisherigen Überzeugungen und resignierte.
Natürlich ließen sich nicht alle treiben – nicht einmal die Mehrheit. Aber es reichte, um die technologische Zivilisation aus dem Tritt zu bringen. Falls keine Kohle mehr
Weitere Kostenlose Bücher