Der Nebelkönig (German Edition)
sowohl als Mensch als auch als Vogel jedes Talent fehlte. Seine
Stimme, wenn er ihren Namen flüsterte ...
»Sarah.«
Sie öffnete die Augen, die sie
geschlossen hatte, um die Bilder noch deutlicher beschwören zu können, und
blickte hinab. Der Rabe erwiderte ihren Blick. Schwach krächzte er ein mattes
Lachen. »Noch mal davongekommen, was?«, wisperte er. »Gut gemacht, mein
Mädchen.« Er schloss die Augen wieder.
Sarah begann zu zittern wie in
einem Fieberanfall und sank neben ihm auf Hände und Knie nieder. Eine Weile
verharrte sie so, knochenlos vor Erleichterung und ausgestandener Angst, bis
sie sich erneut auf die Füße zwang.
»Jetzt zu dir, alter Freund«,
murmelte sie und näherte sich langsam dem immer noch reglos daliegenden Wolf.
Sie traute Bardh nicht, es war gut möglich, dass er sich tot stellte und nur
darauf wartete, dass sie sich über ihn beugte, um sich dessen zu vergewissern.
Sarah musterte das zottige,
blutverklebte Fell, unter dem sich kein Muskel regte. Sie konnte keinen Atem
ausmachen, und die bis auf einen gelblichen Schlitz geschlossenen Augen bewegten
sich nicht. Der Wolf schien so tot zu sein, wie es der Rabe in ihren Augen
gewesen war – aber um sicherzugehen, würde sie ihn berühren müssen.
Sarah biss die Zähne zusammen
und griff nach dem Drachenauge, das sie achtlos in ihre Schürze gestopft hatte.
Warum solche Umstände – wenn sie einen Blitz beschwor, der den Wolf zu Asche
verbrannte, musste sie sich keine Gedanken darüber machen, ob noch ein Funke
Leben in ihm steckte oder nicht, und die Welt war endlich von der Bestie
befreit.
Der Stein pulsierte in ihrer
Hand und sandte einen grünlichen Nebel aus, der sich über den Wolf breitete.
Das Pulsieren wurde stärker, der Nebel leuchtender. Sarah konzentrierte sich
darauf, die Energie des Zaubers in einer einzigen grellen Entladung zu bündeln.
Sie zwang sich zu einem tiefen, ruhigen Atemzug und krümmte die Finger, um den
Zauber zu vollenden, als sie einen kaum sichtbaren Schauder über das graue
Wolfsfell laufen sah. Sie zögerte, denn seine Augen öffneten sich um eine
Winzigkeit weiter und sein trüber Blick fiel auf sie. »Sarah?«
Das tiefe Grollen des Wolfes
hatte sich in ein mattes, heiseres Flüstern verwandelt. Sarah ließ das Drachenauge
sinken, blieb aber wachsam. Bardh, der Wolf, der Nebelkönig, war ein Wesen
voller Ränke und Heimtücke. Es konnte sein, dass er den Sterbenden nur spielte.
»Bardh?«, erwiderte sie.
Ein schmerzlicher Laut entrang
sich seiner Kehle, er versuchte auf die Beine zu kommen, was ihm nicht gelang.
»Sarah«, wiederholte er etwas lauter. »Lass mich nicht hier sterben. Ich bitte
dich um unserer alten Freundschaft willen.«
Er stöhnte, und der Laut
schnitt ihr ins Herz. Sie spürte, wie etwas in ihr sich regte. Der Arme, dachte
sie. Er hat solche Schmerzen.
Trotz ihrer Anspannung musste
Sarah lächeln. Das war Sallie, ganz und gar. Es würde wohl noch einige Zeit
dauern, bis sie sich mit ihrem jüngeren Ich wieder vollkommen vereint hatte.
»Was willst du von mir,
Bardh?«, fragte sie widerwillig.
Der Wolf versuchte den Kopf zu
drehen. »Ein Mal noch«, sagte er sehnsüchtig. »Der freie Himmel.«
Sarah seufzte. Es war
gefährlich, das Gefängnis jetzt aufzulösen. Sie wusste nicht, wer von seinen
Gefolgsleuten noch darin lebte. Und was, wenn der Nebelkönig sie hinters Licht
führte?
»Wo sind deine Leute?«, fragte
sie laut. »Wer ist noch hier?«
»Niemand«, antwortete jemand
hinter ihr. Sie zuckte zusammen, drehte sich aber nicht um.
»Niemand? Wie kann das sein,
Rabe? Wir haben bestimmt hundert seiner Leute mit ihm zusammen eingesperrt.«
Die Hand, die sich auf ihren
Rücken legte, fühlte sich warm und beruhigend an. »Die Zeit war sehr lang. Sie
haben begonnen sich gegenseitig zu jagen und zu töten, das bot eine Zeit lang
Abwechslung im dauernden Einerlei. Ich bin der Letzte, der übrig geblieben ist.
Und glaube mir, Sarah, ich habe an manchem Abend mit dem Giftbecher in der Hand
vor dem Kaminfeuer gesessen und mir gewünscht, ich brächte den Mut auf, ihn zu
trinken.«
Sarah senkte den Blick auf
ihre Hand, die das Drachenauge hielt. »Ich habe zu lange gebraucht, um mich von
unserem letzten Kampf zu erholen. Es tut mir leid.«
»Ich mache dir keine
Vorwürfe.« Korben kniete neben ihr nieder und sah den Wolf an. »Es wundert
mich, dass er mich nicht aus reiner Langeweile getötet hat. Wahrscheinlich
hatte er Angst, dass er dann für den Rest der Ewigkeit
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