Der Nebelkönig (German Edition)
ohne
darauf zu achten, dass sie ihm Hände und Arme zerkratzten.
»Gib mir das Auge«, sagte er.
Sallie schloss die Hand um den
Anhänger. Sie zögerte.
Der Nebelkönig schlug den Kater
mit einer scheinbar beiläufigen Bewegung gegen die Wand. Sallie hörte einen
schrillen Schrei und das Geräusch brechender Knochen. Ein Bündel Fell fiel
leblos auf den Boden.
»Luan«, schrie Sallie und
sprang auf den Nebelkönig zu. Der hob die fauchende und schreiende rote Katze
hoch über seinen Kopf.
»Gib mir das Auge!«, befahl er
erneut.
Sallie fingerte mit zitternden
Händen an der Schnur herum, die den Anhänger hielt. Der Knoten saß fest, und
als sie die Schnur über den Kopf ziehen wollte, hinderte jemand ihre Hände
daran.
»Nein«, sagte die
Katzenkönigin in ihr kalt. »Du bekommst es nicht, Bardh. Du hast schon genug
Unheil damit angerichtet.«
»Ich töte deine Freundin«,
drohte er lächelnd.
»Dann tu, was du nicht lassen
kannst.«
Sallie keuchte, als sie mit
ansehen musste, wie der Wolf erschien und Kaltrina mit einem Biss und einem
Ruck den Kopf abriss.
»Wie konntest du das tun?«,
schrie sie und wusste selbst nicht, ob sie die Katzenkönigin oder ihren Widersacher
damit meinte. Sie fuhr aus der Erstarrung hoch, die die Katzenkönigin über sie
gelegt hatte, und stürzte zu Luan hin. Kaltrina konnte niemand mehr helfen, das
war auf einen Blick zu sehen. Aber vielleicht war noch ein Funke Leben in Luan,
und dann konnte sie – konnte sie ... Sie fischte eine der giftig roten Beeren
aus ihrer Schürzentasche und hielt sie über Luans zerschmetterten Körper. Ihre
andere Hand berührte ihn so sacht wie möglich, um ihm nicht noch mehr Schmerzen
zu bereiten. Sie zerdrückte die Beere über ihm, rief: »Sei wie zuvor« – und sah
im gleichen Augenblick, dass sie zu spät kam.
»Bravo«, der Graue Herr
applaudierte ihren vergeblichen Bemühungen. »Ich sehe, mein Apotheker hat dir
das eine oder andere Kunststück beibringen können, kleine Sallie. Aber höre,
Küchenmädchen: Willst du nicht gehen und die Erwachsenen ihre Angelegenheiten
regeln lassen? Dieses Spiel ist zu groß für dich und viel zu gefährlich!«
Sallie wischte die Tränen fort
und stand auf. Sie sah den Nebelkönig hasserfüllt an. »Du hast sie getötet«,
sagte sie. »Dafür musst du sterben.«
Er lehnte sich zurück und
faltete die Hände vor der Brust. »Große Worte für ein kleines Mädchen«, sagte
er. »Pass auf, dass du dich daran nicht verschluckst, mein Kind.« Ungeduldig
winkte er zur Decke, und mit einem Schlag war alles fort: Sessel und Kamin,
Feuer und Licht, dampfender Tee und warme Teppiche, Wände und Möbel.
Sie standen im Turm, und
Sallie starrte auf das Wolfszeichen am Boden, in dessen Maul die beiden toten
Katzen lagen.
Nebel verhüllte die Wände und
das, was über ihren Köpfen flatterte und kroch.
»Ein hübsches Zimmer, das du
da geschaffen hast«, sagte der Graue Herr. »Aber ich war es nun leid. Dies hier
ist mein Gemach.«
Sallie schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe dich nicht.«
»Du willst mich töten? Dann
komm, töte mich.« Er lachte. »Aber vielleicht möchtest du zuerst meinen letzten
Getreuen töten? Komm her!« Die letzten Worte erklangen scharf und befehlend.
Durch den Nebel hinkte eine schwarze Gestalt näher und blieb schweigend neben
dem Grauen Herrn stehen. Lakritzschwarze Augen musterten Sallie ohne Regung.
»Töte sie für mich, Ben«,
befahl der Graue Herr. »Hab keine Sorge – sie kennt ihre Kräfte nicht.«
Der Apotheker nickte und ging
auf Sallie zu, während der Nebel sich dicht um beide schloss. Sallie wich vor
ihm zurück. »Korben«, sagte sie mit flacher Stimme. »Korben, nein, bitte!«
Er hob die Hände und legte sie
um ihren Hals. Seine Finger strichen beinahe liebkosend über ihre Wange, ehe
sie sich in ihrem Nacken schlossen. Sallie spürte, wie er den Knoten des Fadens
berührte, der den Anhänger hielt. »Es ist so weit, mein Mädchen«, sagte er
flüsternd. Er drückte zu.
Das Blut rauschte laut in
ihren Ohren, und Sallie wurde schwarz vor Augen.
»Gut gemacht, mein treuer
Diener«, hörte sie in weiter Ferne den Nebelkönig ausrufen, während ihr die
Sinne schwanden. Die Welt versank und Sallie spürte voller Staunen, dass sie
starb.
Hände glitten über ihren Hals
und ihren Nacken. Finger befummelten den Faden, rissen an dem Knoten herum. Sie
öffnete die Augen und blickte in das gierige Gesicht des bösen Königs, das
dicht über ihr schwebte. »Stirb nun
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