Der Nebelkönig (German Edition)
ganz allein nur noch mit
den Schatten Dienern als Gesellschaft leben muss.«
»Korben«, unterbrach Sarah ihn
ungeduldig, »du kennst ihn inzwischen besser als jeder andere. Was soll ich
tun?«
»Mach ihm ein Ende«, sagte er
leidenschaftslos, beinahe gleichgültig. »Töte ihn, damit wir gehen können.«
Sarah holte tief Luft und
versenkte ihren Blick in das Auge des Drachen. Der Wolf regte sich und stöhnte.
»Bitte, ich flehe dich an. Töte mich, aber lass mich unter dem Himmel sterben.«
Mit einem plötzlichen
Entschluss, der sie selbst erstaunte, hob Sarah das Drachenauge hoch über den
Kopf und lenkte die darin gestaute Energie zum Scheitelpunkt des Gefängnisses.
Sie spürte, wie die Zeitblase, die diesen Ort umschlossen hielt, zu reißen begann.
»Du machst einen Fehler«,
hörte sie Korben durch das laute Tosen in ihren Ohren rufen.
Sarah ließ sich nicht beirren.
Sie hielt das Drachenauge fest umklammert, denn die Kräfte, die durch sie
hindurch in den Stein flossen, schüttelten sie wie die Faust eines Riesen.
Ein lautloses Erdbeben ließ
den Turm erzittern, in dem sie eingeschlossen waren. Die Mauern begannen zu
wanken und zu bröckeln. Breite Risse taten sich im Mauerwerk auf und ließen
dichte Nebelschwaden eindringen. Sarah hockte inmitten des Chaos und beschwor
das Ende des Kerkers.
Dann fiel der Turm still in
sich zusammen. Riesige Mauerstücke stürzten auf sie herab und zerfaserten,
lösten sich auf wie Nebelschwaden im Wind.
Eine heftige Böe erfasste sie
und rüttelte an ihnen. Sie vertrieb den Nebel und erstarb, und sie fanden sich
auf einer kleinen Lichtung, über die sich ein klarer Nachthimmel spannte.
Sarah ließ das Drachenauge
sinken und schloss erschöpft die Augen. »Einen Moment nur«, murmelte sie.
Ihr zweites Ich, Sallie,
öffnete die Lider und blickte auf. Lichter am Himmel, das da über ihrem Kopf
mussten Sterne sein! Es war Nacht, sie konnte nicht viel von ihrer Umgebung sehen.
Aber die Luft roch frisch und ein Windhauch spielte in ihren Haaren. Sie
seufzte entzückt und breitete die Arme aus, drehte sich um und erstarrte.
Neben ihr hockte der Apotheker
im Gras und lächelte sie an.
»Korben.« Sie schob sich auf
Händen und Füßen rückwärts. »Du hast mich gewürgt.«
Er neigte den Kopf, und sein
Lächeln wurde breiter. »Sallie, welche Überraschung. Dass ich dich noch einmal
wiedersehen würde, hätte ich nicht zu hoffen gewagt.«
Er beugte sich vor, und ehe
sie eine abwehrende Bewegung machen konnte, hatte er sie gepackt und in eine
feste Umarmung gezogen. »Danke für alles«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Danke,
mein Mädchen. Du warst großartig.«
»Warum wagst du, hier neben
mir zu knien, Korben? Du bist ein Verräter.«
Er lachte erstaunlich unbeschwert.
»Ich bin ein Verräter, o ja. Frag den Wolf.« Seine Augen funkelten im blassen
Gesicht. »Du hast von Anfang an gewusst, dass das Gefängnis für Bardh keine Lösung
für die Ewigkeit sein würde, nur eine Atempause für uns, in der wir neue Kraft
sammeln können.« Sein Gesicht verdüsterte sich ein wenig. »Du hast allerdings
verdammt lang gebraucht, um wieder auf die Füße zu kommen. Ich weiß nicht, ob
ich deinem Plan zugestimmt hätte, wenn ich das geahnt hätte.«
Gespannt hörte Sallie ihm zu.
Sie fühlte sich seltsam körperlos, als würde sie schweben. Sallie – Sarah,
dachte sie und spürte, wie die Spaltung ihres Ichs, die sie selbst vorgenommen
hatte, um der Entdeckung durch den Nebelkönig zu entgehen, sich wieder zu schließen
begann.
Korbens heisere Stimme
erzählte, wie Sarah, die Katzenkönigin, ihren Widersacher und seine Hauptleute
nach dem entscheidenden Kampf mit letzter Kraft in eine Blase aus gefrorener
Zeit einschließen konnte und wie sie kurz zuvor ihre wenigen verbliebenen Verbündeten
zusammenrief. Eine Handvoll waren sie nur noch, ein »verlorener Haufen«, wie
die heisere Stimme sagte. Der Nebelkönig war besiegt, aber nicht völlig geschlagen,
er würde sich erholen, und die Katzenkönigin wusste, dass das Gefängnis ihn
nicht für immer halten konnte. Er besaß immerhin das Auge des Drachen, und das
verlieh ihm große Kraft.
»Wir mussten uns schnell
entscheiden«, fuhr Korben fort. »Du hattest einen Plan und er war so verzweifelt
wie wir alle.«
Drei ihrer engsten Vertrauten
ließen sich als Schatten mit in die Zeitblase schließen – Sarah wollte nicht,
dass sie ihr Leben weiter riskierten, deshalb sandte sie nur ihre Abbilder in
das Gefängnis, die sich um
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