Der Nebelkönig (German Edition)
dem kleinen, vollgestopften und fensterlosen Raum war niemand zu sehen. Sie
blickte sich um und sah deckenhohe, verglaste Schränke voller Gefäße und fremdartiger
Gegenstände, Regale mit Körben und Schachteln, verschlossenen Tonkrügen,
Glaskolben und Behältern aus Metall, Bücherstapel und aufgerollte Bandagen,
Tiegel und Mörser, wohlriechende Kräuterbündel und stinkende Salben, einen
zerschrammten Arbeitstisch, über dem eine Lampe hing und auf dem sich
Gerätschaften türmten – aber keine Menschenseele.
Unter all dem Zeug fand Sallie
einen Hocker und ließ sich darauf nieder, wobei sie darauf achtete, weder den
Hocker noch ihre Röcke mit der blutdurchtränkten Kochschürze zu berühren.
»Ich komme sofort«, hörte sie
den Besitzer der ungeduldigen Stimme rufen. Etwas später klappte eine Tür, die sie
zwischen den hohen, vollgestopften Regalen nicht entdeckt hatte, und ließ Tageslicht
ins Zimmer. Sallie blinzelte geblendet. Ein großer Rabe trat ins Zimmer und
schloss die Tür hinter sich.
Sallie schnaufte und rieb sich
die Augen. Natürlich war das kein Rabe, der da herankam, sondern ein Mann in
schwarzen Kleidern. Sie erhob sich erschreckt. Das war der unheimliche Mann,
den sie an jenem Abend bei Kammerherr Krikor das erste Mal zu Gesicht bekommen
hatte!
Hinkend kam er näher, während
er sich die Hände an einem sauberen Leinentuch abtrocknete, und sah sie ernst,
aber nicht unfreundlich an. »Was ist passiert?« Er warf einen Blick auf den
notdürftigen Verband um ihre Hand. »Geschnitten?«
Sallie nickte und zog eine
jämmerliche Grimasse. War das etwa der Apotheker, der ihr helfen sollte?
Der Mann sah ihr Gesicht. »Es
tut weh, hm? Lass es mich anschauen.« Er drehte die Lampe zu ihr, griff nach
der durchgebluteten Schürze und wickelte sie ab. Seine Finger drückten den
tiefen Schnitt ein wenig auseinander. Sallie konnte einen Schmerzenslaut nicht
unterdrücken.
»Halte noch ein wenig aus«,
sagte er, ohne die Untersuchung zu unterbrechen. »Ich muss erst sehen, wie tief
er geht und was du dabei alles getroffen hast. Es ist ein glatter Schnitt, gut.
Es hat ordentlich geblutet, also ist kein Schmutz darin. Gut. Der Schnitt geht
fast bis zum Knochen, aber anscheinend hast du nichts durchtrennt, was nicht
auch so wieder zusammenwächst. Sehr gut. Braves Mädchen.« Er ließ die Hand los
und wickelte geschickt und schnell wieder einen sauberen Lappen darum. »Ich
muss das nähen«, sagte er.
Sallie sah in sein blasses
Gesicht mit den lakritzschwarzen Augen und schluckte beklommen. »Das tut sicher
weh?«
Er überraschte sie, indem er
lächelte, was seinen Zügen ein wenig die Schärfe nahm. »Es wird nicht schlimmer
als das, was du schon ausgehalten hast. Du bist ein tapferes Mädchen, du hast
nicht einmal geweint.«
Erstaunt zog Sallie die Brauen
zusammen. Es stimmte. Aber warum hätte sie auch weinen sollen? Wären der
Schmerz und der Schreck dadurch weniger geworden?
Als hätte sie ihre Gedanken
laut ausgesprochen, nickte er nachdenklich. »Ich werde dir nachher etwas geben,
das den Schmerz dämpft«, erklärte er und wandte sich zum Tisch. Er schob tonlos
pfeifend einige Gerätschaften und Porzellanschalen beiseite und zog eine
kleine, abgeschabte Ledertasche heran, der er einige lange Nadeln, eine spitze
Schere und Zwirn entnahm. Dann holte er einen Korb mit sauberen Tüchern unter
dem Tisch hervor und ging zu einem der Schränke. Mit einer braunen, dicht
verkorkten Flasche kehrte er zum Tisch zurück und öffnete sie mit einem Messer.
Daraus gab er klare Flüssigkeit auf ein Tuch. »Ich werde den Schnitt säubern«,
sagte er. »Es ist vielleicht nicht nötig, weil er stark geblutet hat, aber ich
möchte sichergehen, dass du keinen Küchenschmutz in der Wunde behältst. Dein
Verband sah nicht allzu sauber aus.«
Sallie seufzte. Das würde
allerdings wehtun. Sie erkannte die Tinktur an ihrem scharfen Geruch, die Küchenmamsell
verwahrte sie für Notfälle in ihrem Schrank.
Sie streckte dem Apotheker die
Hand hin und schloss ergeben die Augen.
Die Flüssigkeit brannte und
biss in ihr wundes Fleisch, dass es ihr den Atem verschlug. Sie keuchte und
spürte, wie das Wasser in ihre Augen schoss.
»Gleich ist es vorüber«, sagte
der Apotheker beruhigend. Er drückte ihre gesunde Hand.
Sallie nickte und trocknete
die Augen mit ihrem Ärmel. Sie sah ihm zu, wie er die Nadeln mit der
Flüssigkeit reinigte und in eine Porzellanschale legte. Dann zog er seinen
dunklen Rock aus, hängte ihn
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