Der Nebelkönig (German Edition)
den Kopf wieder
gegen die Wand und schloss die Augen. Alles drehte sich. Sie hörte, wie der
Apotheker in den Nebenraum ging und dort herumfuhrwerkte. Dann näherten sich
seine unregelmäßigen Schritte wieder und sie spürte seine Hand auf ihrem Arm.
»Komm mit«, sagte er und half
ihr dabei, aufzustehen. Sallie ließ sich von ihm ins Nebenzimmer führen. Auch
dieser Raum war klein und vollgestellt, aber er hatte im Gegensatz zum vorderen
Zimmer ein Fenster, dessen Vorhang der Apotheker jetzt schloss. »Hier ist eine
Liege«, sagte er und deutete auf ein schmales, niedriges Bettgestell in der
Ecke hinter einem Tisch voller Bücher. Sallie war zu erschöpft, um sie sich
näher anzusehen, obwohl Bücher sie immer magnetisch anzogen.
Der Apotheker missdeutete ihr
Zögern. »Das ist nicht mein Schlafzimmer«, sagte er. »Meine Räume sind im
Südflügel. Das hier ist eine Liege für meine Patienten.« Er machte eine
einladende Handbewegung und lächelte. »Ich muss mich für die Unordnung entschuldigen.
Ich räume ungern auf.«
Sallie hockte sich auf die
Liege und ruckte unschlüssig hin und her. »Die Küchenmamsell ...«, sagte sie.
»Ich gebe ihr Bescheid. Leg
dich hin, schlaf ein wenig. Ich lasse dir nachher etwas zu essen bringen.« Er
schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du hast bestimmt noch nichts gegessen,
oder?«
Sallie, schon halb im Schlaf,
schüttelte den Kopf. Sie war nicht hungrig, nur müde. Sie hörte noch, wie der
Apotheker das Zimmer verließ, dann war sie eingeschlafen.
Blut, überall war Blut. Es
floss ihr über die Hände und tropfte auf den Boden, sammelte sich in Lachen und
Pfützen, bespritzte alles rundum mit dunklen, feucht glänzenden, klebrigen
Tropfen. Ein metallischer, süßlicher Geruch hing über allem und ließ sie
würgen.
Sie sah sich verzweifelt um. Jemand
musste das beenden. Überall dieses Blut, das war böse und schlecht. Sie musste
dafür sorgen, dass es aufhörte. Es dauerte schon viel zu lange, die ganze Welt
drohte darin zu ertrinken.
Sie rief »Hallo!«, und dann
schüttelte sie den Kopf. Hier war niemand außer ihr. Niemand konnte dem ein
Ende machen – außer ihr. Also sollte sie aufhören herumzuzappeln und endlich
etwas unternehmen.
Es war dunkel. Sie stand auf
einer weiten Ebene und in der Ferne, lange nachdem ihr Blick eigentlich auf
Türme und Mauern hätte fallen müssen, war nichts außer dem nächtlichen Himmel
und einem gelegentlichen Wetterleuchten.
Sie schüttelte den Kopf. Was
war das – »Wetterleuchten«? Das Wort war in ihrem Kopf aufgetaucht, und sie
wusste, dass es zu dem gehörte, was dort hinten geschah, zu diesem gelegentlichen
Aufblitzen von Licht, das die Silhouetten von Bäumen an den Himmel malte.
Hinter ihr stand jemand, sie
hörte ihn atmen. »Wir waten schon so lange durch Blut«, sagte sie, ohne sich zu
ihm umzudrehen. »Meinst du nicht, wir sollten dem ein Ende machen?«
Er antwortete nicht, und als
sie sich umdrehte, war dort niemand.
»Wo bin ich?«, fragte sie
verwirrt. Wo war das Haus? Sie wollte nach Hause. Sie wollte in ihr Bett, sie
wollte schlafen. Sie war so müde und ihre Hand tat weh.
Sie schloss ihre Hand fest um
einen harten, runden Gegenstand, der sich schmerzhaft in ihr gequältes Fleisch
drückte.
Und während sie den Schmerz
fühlte, wuchsen rundherum graue Mauern und Türme aus der Ebene und schlossen
sie ein. Das Licht der Sterne verblasste im trüben, nebligen Dunst. Die Zeit
hielt mit einem schmerzhaften, knochenerschütternden Ruck an.
Sallie erwachte mit einem
schmerzhaften Ruck, der durch ihren ganzen Körper ging. Sie schlug die Augen
auf und starrte verwundert auf ein Kräuterbündel, das über ihrem Kopf hing.
Erst nach einigen Atemzügen, die den Traumnebel zu vertreiben halfen, erinnerte
sie sich wieder daran, wo sie war und warum sie hier in einem fremden Zimmer
lag und nicht in ihrem eigenen Bett.
Sie setzte sich auf und
betastete den Verband. Die Hand zur Faust geballt schlossen sich ihre Finger um
etwas Kleines, Hartes.
Sallie bog die Finger
auseinander und blickte verständnislos auf den Kieselstein nieder, den sie
festhielten. Es war ein kleiner, grauer, ganz gewöhnlicher Stein, den jemand
mit ein bisschen Draht umwickelt hatte, damit man ihn an einen Faden hängen und
um den Hals oder am Handgelenk tragen konnte. Woher hatte sie diesen Kiesel?
Und warum hielt sie ihn umklammert, als wäre er etwas unglaublich Kostbares?
Sie schrak auf, als der
Apotheker hereinkam. Er trug ein
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