Der Nebelkönig (German Edition)
Tablett mit einem dampfenden Napf Suppe und
einem Stück Brot. »Ich habe gehört, dass du wach bist«, sagte er und stellte
das Tablett auf einen Hocker neben dem Bett. »Wie geht es dir?«
Sallie nickte nur und griff
nach dem Napf. Sie hatte mit einem Mal einen richtigen Wolfshunger. Der Kiesel
fiel unbeachtet in ihren Schoß.
Der Apotheker setzte sich in
einen breitbackigen Ohrensessel und faltete die Hände vor der Brust. Er sah ihr
beim Essen zu, ohne etwas zu sagen.
»Danke.« Sallie stellte den
leeren Napf aufs Tablett. »Ich bringe das in die Küche zurück.«
Der Apotheker beugte sich vor
und hinderte sie mit einer Handbewegung daran, aufzustehen. »Wie kommt ein
Serviermädchen eigentlich zu so einer bösen Schnittverletzung?«, fragte er.
Sallie hob den Kiesel aus
ihrem Schoß auf und drehte ihn in den Fingern. »Frau Lulezime wollte nicht,
dass es jemand erfährt«, sagte sie. »Ich bin Küchenmädchen.«
Er legte den Kopf schief. Das
Licht, das durch den Vorhang sickerte, spielte mit bläulichen und grünlichen
Reflexen auf seinem Haar. »Küchenmädchen«, wiederholte er. »Und – wärst du
nicht lieber Serviermädchen? Die Arbeit in der Küche ist doch sehr anstrengend,
oder?«
Beinahe entsetzt schüttelte
Sallie den Kopf. Die schreckliche Abendgesellschaft bei Kammerherr Krikor stand
ihr noch allzu deutlich vor Augen. »Nein, Herr«, sagte sie energisch. »Ich
arbeite gerne in der Küche. Und ich habe mich auch noch nie so schlimm
verletzt. Ich war unaufmerksam.«
Er nickte nachdenklich. »Was
hast du da?«, fragte er.
Sie blickte den Stein an.
»Nichts«, sagte sie und schloss die Finger darum. Sie wollte nicht, dass er den
Kiesel anschaute. Sein Blick war so bohrend und streng.
Redzep! Der Junge im Keller
hatte ihr den Stein gegeben! Sallie atmete scharf und schnell ein. Wieso hatte
sie das vergessen? Wieso hatte sie Redzep vergessen? Sie hatte ihn doch schon
längst wieder besuchen wollen!
Fragend hob der Apotheker eine
Braue. Sallie schüttelte den Kopf und stand auf. »Danke, Herr Apotheker. Ich bringe
das dann zurück in die Küche.« Sie zögerte. »Die Küchenmamsell ...«
»Ich habe ihr gesagt, dass du
deine Hand ein paar Tage schonen musst.« Er erhob sich ebenfalls. »Sie hätte
dich aber selbst wieder weggeschickt. Du hast ein Blutbad in der Küche angerichtet!«
Sallie schauderte. »So viel
Blut überall«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Wir müssen dafür sorgen, dass
das für immer aufhört, Rabe.«
»Das müssen wir, Sarah.« Er
griff nach ihrem Ellbogen und stützte sie, weil sie schwankte. Bilder aus ihrem
Traum tanzten vor ihren Augen.
Dann hob sich der blutige
Schleier. Sie schüttelte sich und sah verwirrt in des Apothekers bleiches Gesicht,
der sie stützte. »Was ist passiert?«
»Dir ist schwindelig
geworden«, erklärte er und ließ ihren Arm los. »Sei heute und morgen nicht zu
leichtsinnig, Sallie. Du solltest gleich wieder ins Bett gehen. Nein, lass das
Tablett hier. Ich werde es abholen lassen.«
Sallie nickte gehorsam. Sie
fühlte sich wirklich schwach und wackelig. Der Schlafsaal erschien ihr
plötzlich wie ein ungemein verlockender, friedlicher Ort.
Der Apotheker bot ihr an, sie
hinzubringen, aber Sallie lehnte ab. Er war freundlich zu ihr und überaus
bemüht um ihr Wohlergehen, aber sie fühlte sich unsicher, wenn er sie
anblickte. Seine schwarzen Augen verschluckten das Licht, und sie sah sich in
ihnen gespiegelt, als wäre sie winzig klein in seinem Kopf gefangen und riefe
von dort vergeblich um Hilfe.
Sie schaffte es bis vor die
Tür der Apotheke und musste sich dort erst einmal an die Wand lehnen. Es war
doch nur ein Schnitt in der Hand, warum also diese Schwäche? Mit einem
ungeduldigen Lachen ging sie ein paar Schritte weiter, ehe sie erneut pausieren
musste. Ihre Aufmerksamkeit war von einem dunkelroten Wolfskopf gefangen,
eingelassen in die Wand, und sie erinnerte sich. Ein schneller Seitenblick –
sie war allein. Sallie klopfte gegen den Stein und murmelte »Küchenmädchen
Sallie. Ich möchte einen Transport zum Schlafsaal des Küchenpersonals, bitte.«
Sie hatte nicht ernsthaft
damit gerechnet, dass dieser Zauber auch für sie funktionieren würde, aber er
tat es.
Der Kopf leuchtete gleißend
hell auf, Sallies Sicht verschwamm und sie glaubte zu fallen, und dann stand
sie mit einem Mal im Gang, der von der Küche zum Schlafsaal führte, und rang
nach Luft.
»Toll«, sagte sie beeindruckt.
Das würde ihr künftig einige Lauferei
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