Der Nebelkönig (German Edition)
hineinzuwerfen. »Danke, ich komme bestens zurecht«, sagte er kurz angebunden.
Der Graue Herr schwieg und sah
dabei zu, wie der Apotheker die Kiste befüllte.
Sallie spürte, dass er sie
musterte. Sie erwiderte seinen Blick, und er nickte ihr beinahe verschwörerisch
zu. »Du bist viel im Haus unterwegs, hm?«
Sallie fragte sich, woher er
das wusste, und ob es dem Personal möglicherweise verboten war, auf eigene
Faust das Haus zu erkunden. »Nur, solange ich nicht arbeiten konnte, Herr«, erwiderte
sie sittsam.
Korben ließ ein unterdrücktes
Prusten hören, aber als Sallie zu ihm hinsah, war er mit düsterer Miene damit
beschäftigt, das Kistchen aus und wieder einzuräumen.
»Du wirst also morgen wieder
in der Küche sein und tun, was immer ein Küchenmädchen so zu tun hat? Erzähle
mir ein bisschen darüber.«
Bei keiner ihrer wenigen
Begegnungen hatte Sallie den Grauen Herrn so aufgeräumt und neugierig erlebt.
Sie räusperte sich verlegen. »Nun, ich putze Gemüse und spüle und räume auf,
ich fege ...« Sie unterbrach sich, weil es offensichtlich war, dass der Graue
Herr ihr nicht zuhörte. Er sah an ihr vorbei und sein Blick war müde in die
Ferne gerichtet.
»So, so«, sagte er abwesend.
»Wie nett. Und morgen? Was wirst du morgen tun, wenn alle anderen auf dem
Großen Fest sind und sich amüsieren?«
»Ich werde servieren«,
antwortete sie selbstbewusst. Es machte sie stolz, morgen nicht in Holzpantinen
in der Küche zu stehen und Töpfe zu scheuern, bis ihr die Haut von den Fingern
hing. Frau Lulezime traute ihr zu, an den Tischen der Herrschaft zu arbeiten.
Der ferne Blick des Grauen
Herrn wurde scharf und klar und richtete sich auf Sallies Gesicht. »Du wirst
servieren? Das freut mich sehr.«
Meister Korben hustete laut
und missbilligend. Der Graue Herr löste seine Aufmerksamkeit von Sallie und
wandte sich an den Apotheker: »Was hast du, Ben? Gefällt es dir nicht, dass
dein junger Schützling den Fuß auf die erste Sprosse der Karriereleiter stellen
kann?« Er lächelte sein kühles Lächeln. »Du hattest eigene Pläne mit ihr, nicht
wahr, mein Freund?«
Sallie sah Korbens
Gesichtsausdruck und fröstelte. Der Apotheker zerrte am Gürtel seines
schwarzsamtenen Hausmantels, als wolle er jemanden erwürgen, und sagte:
»Sallie, ich bin fertig. Bring Imer das Verbandszeug.«
Sie sprang auf und nahm die
kleine Kiste, die er ihr hinhielt, ohne sie anzusehen.
»Danke, Meister Korben«, sagte
sie, knickste vor dem Grauen Herrn und wandte sich zur Tür.
»Ach, Sallie?«, hielt der
Graue Herr sie auf. »Willst du mir einen Gefallen tun? Lauf zum Kellerer und
hole mir und Meister Korben eine Flasche Wein. Hier, nimm diese mit.« Er hielt
ihr eine leere Flasche hin.
»Es ist spät«, mischte Korben
sich ein. »Lass das Kind zu Bett gehen. Im Gegensatz zu uns hat sie morgen
einen harten Tag. Ich rufe den Diener.«
Sallie stand da, die Kiste
unter dem Arm und die Flasche in der Hand, und sah, wie der Graue Herr dem
Apotheker freundschaftlich die Schulter drückte. Und sie sah, wie Meister
Korbens Gesicht noch blasser wurde, seine Lippen weiß und wie er die Augen
schloss.
»Den Diener, nun gut«, sagte
der Graue Herr nachsichtig. »Dann wollen wir dir den Gefallen tun, alter
Freund. Danke, Sallie, du kannst gehen.«
Sallie zögerte, denn allzu
seltsam erschien ihr das Geschehen, unter dessen freundschaftlicher und
harmloser Oberfläche etwas Finsteres und Abgründiges zu lauern schien.
»Hast du mich nicht
verstanden?«, fragte der Graue Herr.
»Bitte geh, Sallie«, flüsterte
der Apotheker.
Sie riss die Tür auf und
rannte aus dem Zimmer, und der Anblick, wie die Finger des Grauen Herrn sich
tief in die bucklige Schulter des kleinen Apothekers gruben, verfolgte sie bis
in die Küche.
10
Sallie war so aufgeregt, dass
sie alle paar Augenblicke die sorgfältig gebundene Schleife kontrollierte, die
ihre Schürze hielt. Lagen die Bänder noch ordentlich gekreuzt übereinander? War
der steife Knoten nicht verrutscht?
Dann fuhren ihre Hände zu den
Zöpfen, die die Wäschefrau ihr noch in letzter Minute zu einem Kranz um den
Kopf gelegt hatte. Steckten die Nadeln noch darin?
Sie rieb die neue Stoffpantine
an der weiß bestrumpften Wade des anderen Beins. Einer der Beiköche hatte sie
versehentlich getreten, und jetzt war ein verschmierter Fleck darauf zu sehen.
Dann warf sie einen besorgten
Blick auf ihre rosig geschrubbten Hände. Waren die Fingernägel noch
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