Der Nebelkönig (German Edition)
wie schwarze Löcher anblickten. »Sallie«, drängte er. »Du darfst hier
nicht bleiben!«
Sallie sah, wie der Beikoch
Imer ihr ungeduldige Zeichen gab, ihm zu helfen. »Bitte, Meister Korben«, sagte
sie, »ich muss doch meine Arbeit tun!« Sie machte sich frei, und während sie
sich von Korben entfernte, entdeckte sie, dass er einen Arm in eine Schlinge
gebunden trug, als wäre dieser gebrochen. Auf seinen Stock gestützt blickte er
ihr mit solcher Verzweiflung in der Miene nach, dass sie kurz stehen blieb,
weil ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Was war es nur, das ihn so
erschreckte?
»Sallie!«, rief der Koch, und
sie drehte sich um und lief zur Tafel, um Imer zur Hand zu gehen.
Die Herrschaften waren erneut
hungrig geworden und rissen Sallie die vollen Teller nahezu aus der Hand. Das
angerichtete Essen schwand wie Eis auf einer heißen Ofenplatte, und bald
blieben nur noch armselige Krümel und Bröckchen auf den Platten übrig.
Der Herr, der Sallie seinen
Teller entgegenhielt, knurrte, als er sah, was Imer notdürftig für ihn zusammenklaubte.
»Willst du mich verhungern lassen, Kerl?«, fauchte er und der Speichel sprühte
von seinen Lippen. Der Herr griff nach dem langen Messer, mit dem der Koch
zuvor dünne Scheiben vom kalten Braten abgesäbelt hatte. Und während Sallie
sich noch fragte, was er wohl damit beginnen wollte, fuhr das Messer auf den
Koch herab. Imer riss mit einem Schrei seine Hände empor, das Messer schnitt
durch seine Finger und stieß in seine Kehle, schlitzte sie auf und fuhr beinahe
beiläufig noch in die Flanke des kleinen Kochgehilfen, der an Imers Seite
stand. Sallie kreischte und sprang zurück, während Imer neben ihr über den
Tisch fiel und zuckend verblutete.
Als wäre dies ein Zeichen
gewesen, nahm nun die wilde Hatz auf das panische und nach Fluchtwegen suchende
Personal ihren Anfang. Stühle und Tische fielen um, Teller und Gläser zerschellten
am Boden, Köche rannten um ihr Leben und Serviermädchen schrien und schlugen um
sich, während Damen in seidenen Roben und Herren in dunklen Samtröcken danach
trachteten, sie mit Tranchiermessern und langen Vorlegegabeln zur Strecke zu
bringen.
Sallie tauchte unter den Tisch
und blieb eine Weile zitternd dort hocken, während über ihr das Inferno tobte.
Dann kroch sie langsam unter der langen Tafel entlang, im Schutz des
Tischtuchs, das beinahe bis auf den Boden reichte. Der Tisch über ihr bebte und
ruckte, während Menschen darauf niederfielen, sich an ihn klammerten, das
Tischtuch an manchen Stellen herunterrissen, schrien, stöhnten, kreischten,
flehten ... Sallie hätte sich liebend gerne die Ohren zugehalten, die Augen
zusammengekniffen, sich irgendwo in einer Ecke zusammengerollt und gewartet,
bis es vorüber war – aber das hätte ganz sicher ihren Tod bedeutet.
So kroch sie also weiter und
gelangte ans Ende der Tafel. Vorsichtig streckte sie den Kopf hinaus. Dort
drüben war die Tür, und sie stand offen. Hinter ihr im Saal tobte die
blutgierige Gesellschaft. Sallie wollte schaudernd den Blick abwenden, als ihr
ein grauer Schatten mitten im größten Gewühl auffiel. War das ein Mensch, der
auf allen vieren lief? Dann erkannte sie die Gestalt des Wesens, und beinahe
wäre sie vor lauter Angst aufgesprungen und losgelaufen. »Wolf«, flüsterte sie
und umklammerte das Tischbein. »Der Wolf!«
Das riesige graue Tier wütete
inmitten der Gesellschaft. Es riss zwei Köche nieder und zerfleischte sie, und
dann lauerte es sprungbereit auf sein nächstes Opfer, einen vornehmen älteren
Herrn, der von Kopf bis Fuß blutbespritzt auf ein Serviermädchen einstach. Der
Wolf sprang ihn an, und im Sprung traf Sallie sein Blick aus kalten gelben
Augen. Sie schrie nun doch, fuhr hoch und rannte zur Tür. Hinter ihr bebte der
Boden unter den mächtigen Sprüngen des riesigen Wolfes, sie hörte seine
Krallen, die das Parkett zerkratzten, und glaubte seinen heißen Atem in ihrem
Nacken zu spüren. Das ist er, der Hausherr, dachte sie. Und er will mich
fressen.
Dann war sie an der Tür, und
als sie halb hindurch war, packte sie jemand und riss sie hinaus aus dem Saal.
Sie brüllte, blind vor Panik, und schlug um sich, kam frei und lief um ihr
Leben. Jemand folgte ihr, und sie meinte das Klicken und Scharren von Klauen zu
hören.
Der Wolf, der Wolf, der Wolf
... dachte sie im Takt ihrer rennenden Füße. Der Wolf ist hinter mir – der Wolf
– der Wolf!
Der Gang war lang und türlos,
ohne Abzweigung oder irgendeine Nische,
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