Der Nebelkönig (German Edition)
Bündel auf,
das sie am Morgen neben der Tür abgestellt hatte. »Wo soll ich schlafen,
Meister Korben?«
»Hier nicht«, beschied er ihr,
ohne von seiner Lektüre aufzublicken.
Sallie umklammerte ihr
schmales Bündel mit beiden Armen. »Ich brauche aber einen Schlafplatz.«
»Wo hast du denn bisher
geschlafen?«
»Im Schlafsaal des
Küchenpersonals«, erklärte sie geduldig. »Dort darf ich aber nicht mehr hin,
wenn ich nicht zur Küche gehöre.«
Nun blickte er doch voller
Unmut auf. »Albern und dumm«, knurrte er, er meinte allerdings nicht Sallie
damit. »Wo soll ich dich denn unterbringen? Bei mir im Bett?«
Sallie deutete stumm auf das
Hinterzimmer, in dem sie nach ihrem Unfall geschlafen hatte. Mit gerunzelter
Stirn sah der Apotheker sie an. Dann nickte er ungeduldig. »Meinetwegen. Bis
wir eine andere Lösung gefunden haben. Nun lauf schon. Nimm die Kerze dort
mit.«
Sallie zog sich in das kleine
Zimmer zurück und schloss die Tür. Sie ließ ihr Bündel und dann sich selbst auf
das niedrige Lager fallen, zog die dünne Decke über den Kopf und vergoss ein
paar erschöpfte Tränen. Dann wischte sie ihr Gesicht trocken und richtete sich
auf. Sie inspizierte ihre Umgebung, die ähnlich vollgestopft und unordentlich
war wie der große Raum, den sie heute aufzuräumen begonnen hatte.
Die Bücher auf dem Tisch schob
sie zusammen, bis eine Ecke freigeräumt war, und legte ihre Habseligkeiten
darauf ab. Ihre Pantinen, die inzwischen nicht mehr ganz so schön und neu
aussahen, stellte sie ordentlich unter die Liege und zog schaudernd die Füße
unter ihren Rock. Sie würde in ihren Kleidern schlafen, denn in dem kleinen
Raum war es nicht allzu warm. Dennoch wollte sie das Fenster nicht schließen,
denn die Luft, die hereinwehte, roch süß im Gegensatz zu all dem Staub, den sie
in der Apotheke geschluckt hatte.
Sallie kramte das Buch aus
ihrem Bündel und wog es nachdenklich in der Hand. Es widerstrebte ihr, es
aufzuschlagen. Wahrscheinlich würde die Katzenkönigin auch noch damit beginnen,
Dinge von ihr zu fordern, die sie weder tun konnte noch wollte. So schob sie
das Büchlein wieder in ihr Bündel und legte sich hin, die Arme hinter dem Kopf
verschränkt. Es war dunkel, aber sie zündete die Kerze nicht an. Durch das
Fenster fiel der sanfte Schimmer des leuchtenden Nebels, der den Großen Turm
einhüllte, und tauchte das Zimmer in einen zauberischen Glanz.
Lange Zeit lag sie so da, ohne
zu schlafen. Ihre Gedanken wanderten von Redzep zu Kaltrina und Luan, dann wieder
zur Katzenkönigin und zu der Geschichte des Nebelkönigs. Er war eingesperrt in
seinen Turm, in sein Haus und konnte es nicht verlassen. Und mit ihm
eingesperrt waren alle, die ihm einst gedient hatten. Sallie zog sich die Decke
eng um den Leib. Sie konnte immer noch nicht recht glauben, dass Korben und
Redzep, die Wirtschafterin, Imer und Marsela seine Gefolgsleute waren. Und was
war sie selbst? Woher stammte sie, welches Schicksal hatte sie hierhergebracht?
Sie konnte sich an kein anderes Dasein erinnern als an das des Küchenmädchens.
Sallie seufzte tief und ein
leises Lachen erwiderte das Seufzen. »Das klingt aber nach großem Herzeleid und
tiefen Gedanken.«
Sie fuhr hoch. »Wer ist da?«
Etwas bewegte sich schwarz vor
dem helleren Quadrat des Fensters. Füße kratzten über das Fensterbrett. »Hallo
Sallie«, sagte der große Vogel.
»Rabe!«, Sallie streckte ihm
die Arme entgegen. »Lieber Rabe, du bist es!«
Der Vogel landete weich auf
dem Tisch und faltete seine Schwingen ordentlich zusammen. Dann legte er den Kopf
schief und betrachtete Sallie mit seinen ironisch funkelnden Knopfaugen. »Geht
es dir gut, Sallie, mein Mädchen?«
»Ach, Rabe«, erwiderte Sallie
aus tiefstem Herzen, »es ist alles so schwierig!«
»Du sprichst über das Leben?
Komm, erzähl einem alten Freund, was dich bedrückt.«
Sie stopfte sich das dünne
Kissen in den Rücken und legte die Arme um die hochgezogenen Knie. »Kaltrina
und Luan«, begann sie, aber der Rabe unterbrach sie mit einem rüden Ton, der
halb ein Lachen, halb ein abfälliges Ausspucken war.
Nun legte Sallie ebenfalls den
Kopf schief. »Du hältst nicht viel von ihnen? Aber sie sind meine Freunde.«
Der Vogel kratzte sich mit der
Kralle am Kopf. »Sie sind wohlmeinend und treu. Doch allzu klug sind sie nicht,
und das ist ein großer Fehler, wenn man sich mit so jemandem wie Bardh, dem
Wolf anlegen will.«
»Ich will das aber gar nicht«,
entfuhr es Sallie laut. »Sie sagen,
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