Der Nebelkönig (German Edition)
den
Apotheker. Auch er sah alles andere als wohl aus. Sein Gesicht, das ja sonst
ebenfalls sehr bleich war, erschien beinahe durchsichtig vor Erschöpfung.
»Seid Ihr auch gestorben?«,
entfuhr es Sallie. Der Apotheker zuckte zusammen. »Bitte?«
Sallie wünschte sich ein
Mauseloch herbei, in das sie verschwinden konnte. »Ich habe gestern alle
sterben sehen«, fuhr sie dennoch entschlossen fort, die ungläubige Miene des
Apothekers tapfer ignorierend. »Und nein, ich habe nicht schlecht geträumt. Es
war ganz und gar echt und wahr und wirklich – auch wenn heute alle wieder
herumlaufen und so tun, als wären sie am Leben.«
Meister Korben lehnte sich
zurück und legte die Hände zu einem Spitzdach zusammen. Seine Augen verschleierten
sich. »Du sprichst vom Großen Fest, nehme ich an.«
»Ihr habt mich dort doch
gesehen. Und Ihr habt gesagt, ich solle weggehen. Schnell. Also habt ihr gewusst,
was geschehen wird.«
Er antwortete nicht. Seine
Miene war finster. »Und was ist dann geschehen?«, fragte er.
Sallie klammerte die Finger
ineinander, denn die Erinnerung, die sie nun in aller Deutlichkeit wieder heraufholte,
war so frisch und schrecklich, dass sie es kaum aushalten konnte. Sie begann
mit flacher Stimme zu erzählen, was sie erlebt hatte, bis zu dem Zeitpunkt, wo
sie durch die Tür geflüchtet war, den Wolf auf ihren Fersen.
»Bist du dir ganz sicher, dass
er hinter dir her war?« Seine Stimme klang beunruhigt, obwohl sein Gesicht
nichts anderes zeigte als gelangweilte Müdigkeit.
Sallie wollte die Frage
bejahen, als sie sich an das Geräusch der Schritte erinnerte, die sie verfolgt
hatten. Jetzt erst wurde ihr klar, dass dieses Klackern und Stolpern seltsam
geklungen hatte. Es hatte sich nicht wie ein großes, geschmeidiges, starkes
Tier angehört, das mit weiten Sprüngen hinter ihr hersetzte. Eher wie ein
lahmer, humpelnder kleiner Mann mit einen Stock in der Hand.
Sie richtete sich empört auf.
»Ihr wart das! Ihr seid hinter mir hergerannt und habt mich beinahe zu Tode
erschreckt!«
Der Apotheker räusperte sich
ärgerlich. »Rennen kann man das wohl kaum nennen. Dazu bin ich schwerlich in
der Lage.« Er schlug sich gegen das lahme Bein. »Also, meine Gehilfin, wie
stellst du dir unsere Zusammenarbeit vor? Was möchtest du über unser
bescheidenes, aber nützliches Handwerk erfahren?«
Sallie rieb nachdenklich an
einem Fleck auf ihrer Schürze herum. Sie hatte dem Angebot des Apothekers
zugestimmt, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was das bedeutete –
außer, dass sie so der Küche entkommen konnte.
»Nun«, sagte sie, »ich denke,
ich würde gerne lernen, wie man jemandem helfen kann, der sich schlimm verletzt
hat.« Das geisterhafte Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wie Imer vergeblich
versuchte, mit zerschnittenen Händen das Blut zurückzuhalten, das aus seiner
aufgeschlitzten Kehle floss. Sie schauderte.
Magister Korben nahm ihre
Antwort zur Kenntnis. »Genug getrödelt«, sagte er und stand auf. »Wärst du so
freundlich, dir nun diesen Tisch dort vorzunehmen?« Er deutete auf ein Möbel,
das unter seiner Last an Papier und Büchern kaum noch zu erkennen war.
Der Tag nahm seinen Fortgang,
und irgendwann hatte Sallie den Grund des Papierberges erreicht, der sich als
zerkratzte, narbige und erstaunlich schmutzige Tischfläche entpuppte, und
rundum hohe Stapel von Büchern und losen Blättern errichtet, die bei jedem
Schritt über den Dielenboden bedrohlich schwankten.
Als der stete Strom der
Leidenden und Kränkelnden zu einem Rinnsal, dann zu einem Tröpfeln wurde und
schließlich versiegte, schloss Meister Korben die Apothekentür zu und begann
die Stapel abzutragen. Buch um Buch wanderte in das leere Regal, das nun
endlich wieder seine wahre Bestimmung als Bücherbehausung erfuhr.
Sallies Arme waren schwer und
die Füße schmerzten wie nach einem langen Tag in der Küche. Niemand konnte ihr
vorwerfen, dass sie sich nur vor der Arbeit drücken wollte – davon gab es in
der Apotheke anscheinend ebenfalls reichlich und genug zu erledigen. Sie
streckte sich und stemmte die Hände in den Rücken, wobei ihr ein kleiner Ächzlaut
entfuhr.
Magister Korben blickte von
dem Buch auf, in dem er versunken zu lesen begonnen hatte, und sah sie scharf
an. »Geh ins Bett, Mädchen«, sagte er. Es klang nicht besonders freundlich,
aber Sallie nahm es ihm nicht übel. Der Apotheker war kein sonderlich
freundlicher Mann, wenn er es mit Gesunden zu tun hatte.
Sallie klaubte das
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