Der Nebelkönig (German Edition)
Boden war bald knöchel ,
dann wadenhoch, und sie musste für jeden mühsamen Schritt den Fuß herausziehen,
bevor er beim nächsten Schritt wieder versank. Die fallenden Sternchen wurden
zu kleinen Wattebäuschen, die sich auf ihrem Kopf und ihren Schultern niederließen.
Sie wärmten nicht, sondern waren kalt und nass.
Sallie begann zu keuchen, und
trotz der Kälte, durch die sie lief und die sie bedeckte, war ihr heiß von der
Anstrengung, sich durch das weiße, kalte Zeug zu bewegen.
Aber sie wagte nicht, stehen
zu bleiben und zu verschnaufen, denn in ihrem Rücken hörte sie das Heulen des
Wolfes näher kommen.
Ihr Laufen wurde zum Stapfen,
das Stapfen zum Taumeln. Dann fiel sie auf die Knie, hockte schluchzend und
nach Atem ringend in der Kälte, spürte den heißen Atem des Wolfes, roch den
Aasgeruch seines Atems und hörte seine Stimme in ihr Ohr flüstern: »Jetzt habe
ich dich!«
Sallie erwachte von ihrem eigenen
Schrei. Es war kalt im Zimmer und durch das offene Fenster zog der Nebel in
zarten Fäden. Ihre dünne Decke um die Schultern gelegt tappte sie zum Fenster,
um es zu schließen.
Der Blick hinaus zeigte nichts
als dichten weißen Nebel. Weder der Hof noch die Mauern des Hauses noch der
Große Turm waren noch zu sehen. Sallie setzte sich wieder aufs Fensterbrett und
sah hinaus in das wattige, wirbelnde Nichts. Sie zog die Decke enger um sich
und bemerkte, dass sie etwas in der Hand hielt. Sallie beugte den Kopf tief
über das kleine, harte, runde Ding und befühlte es neugierig. Es war ein Stein,
der mit Draht oder etwas Ähnlichem umwickelt war.
Während sie den Stein in den
Fingern drehte, erhaschte sie einen grünlichen Lichtschimmer, der sich in dem
Draht spiegelte. Neugierig blickte sie auf, was hatte den Reflex hervorgerufen?
Doch rundum war es dunkel, nirgendwo ein Licht zu sehen.
Wieder senkte sie den Blick,
und wieder war da ein grünliches Schimmern, das erlosch, als sie ihre Augen
darauf fixieren wollte.
»So was«, sagte Sallie
halblaut. Sie rutschte vom Fensterbrett und schloss das Fenster mit einem energischen
Knall. Dann hüpfte sie auf eiskalten Füßen ins Bett zurück und krümmte ihre
Zehen unter den Rock. Schauder liefen über ihren Körper, und ihre Zähne
klapperten. Der Stein in ihrer Hand fühlte sich lebendig und tröstlich an, und
sie sog mit klammen Fingern die Wärme daraus wie aus einem winzigen Ofen.
So schlief sie wieder ein und
verbrachte den Rest der Nacht in einem traumlosen, kalten Schwebezustand.
13
Sallie erwachte mit schwerem
Kopf und müden Gliedern. Sie fühlte sich zerschlagen und matt. Es war noch
immer dämmrig in der kleinen Kammer. Das Licht, das durch das Fensterchen auf
ihre Liege fiel, erschien trüb und abendlich, obwohl doch längst Morgen sein
musste.
Sie setzte sich auf, gähnte
und streckte sich. Der kleine Stein, den sie fest umklammert gehalten hatte,
fiel auf die Bettdecke, und sie betrachtete ihn neugierig. Das war der Kiesel,
den Redzep ihr bei ihrer ersten Begegnung geschenkt hatte. Wo kam der Stein
her? Sie berührte ihn mit den Fingerspitzen, tastete über den feinen Draht, der
eine kleine Öse bildete, und runzelte die Stirn. Er fühlte sich immer noch warm
an, wahrscheinlich weil sie ihn die ganze Nacht festgehalten hatte. Und er sah
anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Das war kein einfacher
staubbrauner Kieselstein, sondern er hatte eine leuchtende dunkelgrüne Farbe,
und tief in seinem Inneren schienen goldene und silberne Fünkchen zu tanzen.
Sallie zupfte einen Faden aus
der Bettdecke und band sich den Stein um den Hals. Es war ein schönes
Schmuckstück, und seine Berührung auf der Haut fühlte sich seltsam tröstlich
an.
Sie stand auf und ging zum
Fenster. Durch die Ritzen zogen dünne Nebelfäden und lösten sich im Zimmer auf.
Draußen hing noch immer die gleiche dicke, trübe Nebelsuppe wie in der Nacht
über dem Haus und schmiegte sich an dessen Mauern.
Sallie öffnete die Tür und sah
sich in der beinahe aufgeräumten Apotheke um. Sie war selbst erstaunt, wie viel
sie gestern mit Magister Korben geschafft hatte. Die Ecken waren noch vollgestellt
und einige der freigeräumten Stellen mussten noch gründlich geschrubbt werden,
aber die Apotheke sah zum ersten Mal wie ein Ort aus, an den man kommen konnte,
um sich helfen zu lassen.
Sie fackelte nicht lange, nahm
die Bürste und füllte einen Eimer mit Wasser. Dann begann sie den großen Tisch
mit der zernarbten, mit
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