Der Nebelkönig (German Edition)
dass ich ihn töten soll und dass sie ohne
mich nicht mehr von hier fortkönnen. Das ist doch verrückt!«
Der Vogel räusperte sich heiser.
»Das ist nicht ganz so verrückt, wie es klingt. Sie können es nicht, nur du
kannst es schaffen. Ihre Kräfte reichen nicht aus, um dem Zeitgefängnis zu widerstehen.«
Verblüfft lauschte Sallie
seinen Worten. Wie konnte ihr lieber Rabe nur so etwas sagen? »Du auch?«, klagte
sie.
Er lachte mit weit offenem
Schnabel. »Du bist doch kein kleines Mädchen mehr«, erwiderte er erstaunlich
vergnügt. »Als die Katzenkönigin in deinem Alter war ...«
»Bah«, spuckte Sallie erbost.
»Ich mag es nicht hören!«
»Hast du Angst?«, fragte der
Rabe sanft. »Angst vor dem Wolf?«
Sallie hob die Schultern.
»Ja«, sagte sie. »Natürlich habe ich Angst.«
»Erzähl mir, was du hier
machst«, lenkte der Rabe ab. »Was hat dich in diese Rumpelkammer verschlagen?«
»Ich helfe dem Apotheker«, erklärte
sie stolz. »Ich lerne von ihm. Seit heute bin ich kein Küchenmädchen mehr,
sondern eine Apothekergehilfin.«
Der Rabe krächzte belustigt.
»Gehilfin dieses alten Griesgrams. Du tust mir leid, Sallie, mein Mädchen.«
»Er war immer freundlich zu
mir. Nun ja, nicht immer. Aber meistens. Er bemüht sich.«
Der Vogel nickte weise. »Du
bist ja auch nett zu ihm. Wer würde ihm sonst seinen Saustall aufräumen?«
Sallie lachte mit ihm. »Rabe?«,
fragte sie.
»Sallie?« Er breitete die
Flügel aus und sprang unbeholfen auf die Fensterbank. Eins seiner Beine schien
etwas kürzer zu sein als das andere.
»Rate mir. Was soll ich tun?«
Der Vogel blickte über die
Schulter auf sie hinab. »Such dir jemanden, an dem du deine Kräfte erproben
kannst«, sagte er. »Bevor du dich dem Wolf stellst, solltest du ein wenig
üben.«
»Üben?« Sallie hob die Hand,
um ihn am Fortfliegen zu hindern. »Was soll ich üben? Wie man jemanden tötet?«
Der Rabe ruckte ungeduldig mit
den Flügeln. »Stell dich nicht dumm. Wie kannst du den Wolf finden? Was kann
den Wolf besiegen? Womit kannst du den Wolf töten? Er ist mehr als nur ein
Wolf, er ist der Nebelkönig! Vergiss das niemals.«
Mit diesen Worten ließ er sich
aus dem Fenster fallen.
Sallie sprang auf und zog sich
aufs Fensterbrett. Sie hielt sich am Rahmen fest und beugte sich weit hinaus, um
dem Raben nachzusehen. Seine gezackte Silhouette zog am nebelverhangenen Turm
vorüber und verschwand aus ihrem Blick.
»Ist er in den Turm
geflogen?«, fragte sich Sallie. Dann schüttelte sie den Kopf. Dort oben hauste
der Wolf, dort würde der kluge Vogel wohl kaum einen Schlafplatz suchen.
Schlafplatz. Ach, schlafen!
Sallie kehrte auf ihre Liege
zurück und klopfte das Kissen zurecht. Sie war so müde und schlief, kaum dass
sie ihren Kopf darauf gebettet hatte.
Durch ihre Träume geisterten
Ratten und Eulen und Raben und Katzen. Sie alle riefen nach ihr, hielten sie
fest, zupften an ihren Röcken, bissen ihr in den Knöchel oder zausten ihr das
Haar, damit sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte.
Sallie scheuchte die Tiere mit
ungeduldigen Lauten fort, sie wollte ihre Ruhe, damit sie nachdenken konnte. In
der Ferne heulte ein Wolf, und sie sah seinen Schatten ruhelos durch den Nebel
streifen. Eine kleinere Silhouette folgte dem Wolf wie ein Gespenst. Sallie
konnte nicht erkennen, ob sie flog oder auf Füßen lief, denn der Nebel
verzerrte und veränderte alles.
»Wer ist das?«, fragte sie
sich.
Jemand atmete in ihr Ohr, aber
sie konnte sich nicht umdrehen. Eine Hand lag auf ihrer Schulter. »Der
Verräter«, flüsterte eine Stimme. Sallie spürte einen warmen Körper in ihrem
Rücken.
»Wer ist es?«, fragte sie
nüchtern.
Die Stimme antwortete nicht
sofort. »Die Antwort würde dir nicht gefallen«, sagte sie schließlich.
»Sag es mir!«
Etwas war in ihren Fingern.
Klein, hart und rund. Sie hob erstaunt die Hand zum Gesicht, und durch den
immer dichter werdenden Nebel stahl sich ein grüner Schimmer in ihren Blick.
Sallie starrte das Ding an, und während sie das tat, wurde das Leuchten schwächer
und verlosch.
»Der Wolf hat dich gewittert«,
flüsterte die Stimme. »Lauf, Sallie. Du bist ihm noch nicht gewachsen!«
Sallie lief. Ihre Füße
knirschten durch eine eiskalte, gleichzeitig lockere und feste weiße Masse, die
rundum den Boden bedeckte. Der Nebel, durch den sie rannte, verfestigte sich
und klebte wie kleine weiße Sternchen in ihrem Gesicht und auf ihren Kleidern.
Kalt und nass. Dichter und dichter. Das Weiße auf dem
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