Der Nebelkönig (German Edition)
waren, sondern alles drei auf einmal. Er lächelte sie an und seine
Zähne waren sehr weiß und glänzten. »Wunderschön«, sagte er, und Sallie wusste
nicht, was er meinte. Ganz sicher nicht sie, in ihren einfachen Kleidern und
nicht mehr ganz sauberen Pantinen. Sie warf einen unsicheren Blick an sich
hinab und entdeckte, dass sie in einem silberweißen, über und über mit Perlchen
bestickten, leise raschelnden Kleid steckte, und ihre Füße in zierlich
bestickten Seidenpantöffelchen.
»Oh«, sagte Sallie hingerissen
und schmiegte sich noch enger in den Arm ihres Prinzen. Er wirbelte sie durch
die zarten Nebelschleier, die Tropfenmusik klingelte wie eine Spieluhr ihre
feine Melodie, und Sallie dachte für lange Zeit nur noch an ihren Tanz im Nebelsaal.
Sie bemerkte nicht, wie der
Nebel immer dichter wurde und nach und nach die Umgebung einhüllte und
verschwinden ließ.
»Gefällt dir mein Reich?«,
flüsterte der silberne Prinz ihr ins Ohr. »Es ist so groß und schön, wie du es
dir nur wünschst. Und es ist dein, wenn du an meiner Seite auf dem Thron sitzt.
Was sagst du, meine Schönste, meine Königin?«
Sallie öffnete die Augen, die
ihr so schwer und müde geworden waren, und sah ihrem Prinzen ins blasse
Gesicht. Er war so schön und strahlend, seine Augen waren so kalt und fern und
sein Lächeln so eisig wie der Nebel, der in ihre Kleider kroch, sich um ihre
Glieder wand und sie matt und schläfrig machte. Sie hörte die flüsternde
Stimme, sie spürte den Kuss, den er ihr mit kalten Lippen gab, und ihre Lider
flatterten und sanken herab. Sie träumte von dem Königreich der Nebel, in dem
sie mit ihrem Gatten herrschte, der ein großer, eisäugiger nebelgrauer Wolf
war.
Ein heiseres Krächzen weckte
sie aus ihren kalten Träumen. »Rabe«, murmelte sie mit tauben Lippen, »lieber
Rabe.«
Sie spürte warme Federn an
ihren Fingern. Ein Gewicht setzte sich auf ihren Arm, ein harter Schnabel
zwickte sie fest ins Ohrläppchen. »Au«, sagte sie und versuchte dem Schnabel
auszuweichen. »Lass. Autsch, das tut doch weh!«
Ihre schwächlichen Versuche,
ihren Peiniger beiseitezuschieben, bewirkten, dass sie vollends erwachte. Sie
fand sich zusammengerollt unter dem großen Nussbaum in einem Haufen modrig riechender
Blätter und morscher Zweige liegen, die sich in ihre Beine bohrten und beinahe
so unangenehm zwickten, wie der Schnabel es getan hatte.
Der Rabe saß neben ihr und sah
sie vorwurfsvoll an. »Was lässt du dich mit dem Nebelprinzen ein?«, sagte er.
»Du solltest doch wahrhaftig am besten wissen, was daraus wird.«
Sallie setzte sich auf und
rubbelte sich kräftig durchs Gesicht. »Er tanzt sehr gut«, murmelte sie
verlegen.
Der Rabe lachte krächzend und
machte einen ungelenken kleinen Kratzfuß. »Ich bin ebenfalls ein passabler
Tänzer – darf ich bitten, Hoheit?«, spottete er.
Sallie lachte mit ihm, aber
dann wurde sie ernst. »Was bezweckt er damit, Rabe?«
Der Vogel kratzte sich mit der
Kralle am Kopf. »Er wollte sehen, ob du ihm schon gewachsen bist, denke ich.«
»Gewachsen?« Sallie hatte den
Kopf gesenkt und zupfte die stachligen Zweiglein aus ihren Strümpfen.
»Gewachsen wofür?«
Der Rabe antwortete nicht, und
Sallie blickte von ihrem Tun auf, um ihn streng anzusehen. »Rabe!«, mahnte sie.
Der schwarze Vogel wich ihrem
Blick aus. »Du bist stärker, als du selbst weißt«, erwiderte er. »Aber du hast
deine Kräfte nicht erprobt. Wenn du dich dem Wolf stellst, musst du wissen, was
du tust, sonst wirst du ihm keinen Atemzug lang widerstehen können.«
Sallie kniete sich vor ihn hin
und starrte ihn an. »Was rätst du mir also?«
Der Rabe ruckelte von einem
auf das andere Bein. Er rang offenbar mit einer Antwort, die zu geben ihm schwerfiel.
»Du solltest dein Buch lesen«, sagte er schließlich, und Sallie wusste, dass
dies nicht die Worte waren, die er eigentlich hatte sagen wollen.
»Ich lese mein Buch«, gab sie
ungeduldig zurück. »Aber das ist nicht alles. Was wolltest du mir noch sagen,
Rabe?«
Er seufzte, und dieser
menschliche Laut klang seltsam aus der Kehle eines Vogels. »Ich habe es dir
schon einmal gesagt. Du musst dich und deine Kräfte erproben«, sagte er
widerwillig. »Bevor du den König in seinem Turm aufsuchst, wirst du einen
seiner treuen Anhänger bekämpfen müssen.« Die letzten Worte sagte er in einem
Tonfall, der ironisch und bitter zugleich klang.
Sallie schlang die Arme um
ihre Knie. »Einen seiner Anhänger?«, fragte sie
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