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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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kleinen Früchte aus dem dunklen Grün der
Pflanze. Mit spitzen Fingern zwickte sie ein Beerchen ab und sah den Apotheker
fragend an.
    »Du kannst nur heilen, was
noch lebt«, erklärte er und drehte geistesabwesend seinen lackschwarzen Zopf
zwischen den Fingern. »Wenn der letzte Atem den Körper verlassen hat, wenn der
letzte Lebensfunke erloschen ist, dann ist es zu spät.« Er beugte sich vor und
sah sie eindringlich an. »Aber auch zu früh angewendet wird der Zauber
misslingen und denjenigen, den du zu retten versuchst, unweigerlich über die
letzte Schwelle ins Totenreich tragen. Hörst du gut zu, Sallie, mein
Lehrmädchen?«
    Sie nickte beklommen.
    »Der Moment des Todes«, fuhr
er fort. »Der Augenblick, in dem der Geist sich vom Körper löst und in das
Kalte Reich hinübergeht. Das ist der Moment, in dem der Zauber gewirkt werden
kann. Nicht früher und keinen Atemzug später.«
    Sallie starrte die Beere an.
»Was muss ich tun?«, fragte sie mit Lippen, die sich taub und kalt anfühlten.
    Sie spürte, wie er ihr Haar
berührte. »Du zerdrückst die Beere und träufelst den Saft auf den Sterbenden«,
sagte er. »Und dann stellst du dir vor, wie er war und wieder sein soll. Gesund
und kräftig, ohne Verletzungen, ohne Makel. Stell dir sein wahres Wesen so klar
und deutlich vor, wie du nur kannst. Höre seine Stimme, sieh ihn laufen, fühle
seine Berührung. Und dann sage ihm, was ich der Spinne gesagt habe.«
    »Sei wie zuvor«, flüsterte
Sallie. Sie drückte die kleine Beere zwischen den Fingern, fühlte ihre harte
Schale, die kaum nachgab. Sah die kleine Spinne eilig davonlaufen. Sei wie
zuvor.
    »Kann das jeder bewirken –
einfach so?«, fragte sie. Schwerfällig ließ sich der Apotheker auf seinem Stuhl
nieder. »DU vermagst es«, sagte er.
    Sallie blickte ihn ungläubig
an und rollte die Beere in ihrer Handfläche umher. »Warum ausgerechnet ich?«
    Er schnippte mit den Fingern
und verzog abschätzig das Gesicht. »Wenn du dazu nicht fähig wärst, müssten wir
alle hier verrotten.«
    »Das ist keine Begründung«,
merkte Sallie an.
    »Nein, das ist es nicht.
Probiere es aus.« Er deutete auf eine Spinne – dieselbe Spinne? –, die hinter
Sallie an der Wand hochkrabbelte.
    Sie schüttelte sich. »Das
werde ich nicht tun«, erwiderte sie scharf. »Sie hatte Schmerzen. Man sollte niemandem
einfach nur so Schmerzen zufügen!«
    Er nickte, aber es war kein
zustimmendes, sondern ein zweifelndes Nicken. »Also möchtest du lieber warten,
bis jemand sterbend vor dir liegt, bevor du es probierst?«
    Sallie verschränkte die Arme.
Sie dachte an Imer, wie er über der Festtafel zusammengebrochen war, und kniff
die Lippen zusammen, ohne zu antworten.
    Der Apotheker sah sie mit
hochgezogenen Augenbrauen an und nickte dann. »Gut. Ich wollte dir zeigen, wie
du eine Salbe anfertigen kannst. Aber vorher nimm eine Handvoll Beeren. Es ist
besser, sie bei sich zu tragen – du wirst nicht immer die Zeit haben, in den
Garten zu laufen und sie dir zu holen.«
    Sallie pflückte stumm einige
Beeren ab und stopfte sie in ihre Schürzentasche. Meister Korben nickte
zufrieden und griff nach dem großen Mörser.
    »Wenn es Hexerei ist, warum sollte
ich es können?«, kam Sallie auf den Anfang ihrer Diskussion zurück.
    Der Apotheker schnaubte.
»Benutze deinen Kopf«, sagte er scharf. »Uhl und die beiden Katzen haben dir
doch genug erzählt, dass du eins und eins zusammenzählen könntest, oder?«
    Sallie wurde wütend. »Ich soll
den Nebelkönig töten«, schnappte sie. »Und vorher soll ich mit Euch kämpfen,
wonach mir schon weit eher der Sinn steht!« Sie starrte ihn streitlustig an.
    »Sehr gut«, erwiderte er
amüsiert. »Dann fang doch einfach mal an.« Er legte die Hand auf den Wolfskopf
seines Stockes und stieß den Stock hart auf den Boden, der unter Sallies Füßen
zu beben begann. Die Tiegel und Schalen klirrten leise im Regal.
    Sallie sprang auf. »Das ist
mir zu albern«, rief sie und stürmte hinaus.
     
    Erst an der Tür zur Bibliothek
wich der zornige Schleier von ihren Augen und ihrem Gemüt. Sie schnaufte durch
und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Wie dumm«, murmelte sie,
ohne selbst genau zu wissen, wen oder was sie damit eigentlich meinte – sich
selbst, den Apotheker, das verschwundene Buch oder die ganze vertrackte
Geschichte, in der sie sich nun mit Haut und Haaren befand, ob sie wollte oder
nicht.
    Sie riss die schwere Tür auf
und stürmte in die stille Bibliothek. Auch hier

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