Der Nebelkönig (German Edition)
Zwilling. »Was sagst du hierzu?«
Sallie nahm noch einen
Schluck, der deutlich beherzter ausfiel als der erste, und stellte den Becher
ab.
Sie beugte sich über die
beiden Kräuterbündel, betastete sie, roch daran, zuckte mit den Achseln. »Es
ist auch Sternminze?«
Korben faltete die Hände vor
dem Mund. Seine Augen funkelten. »Zerreib ein Blatt.«
Sallie tat es und hielt ihre
Finger unter die Nase. »Minze«, sagte sie zögernd. »Und ... und Knoblauch!«
Korben nahm das Kraut. Wie
zuvor zupfte er ein paar Blätter davon in einen Becher und goss Wasser darüber.
Er reichte Sallie den Becher und sie nahm den Aufguss entgegen. Angenehm, ein
wenig scharf und würzig roch er, genau wie zuvor. Sie schüttelte den Kopf und
führte den Becher zum Mund. Ihr Blick traf auf Korbens Gesicht.
Sallie trank nicht. Langsam,
behutsam stellte sie den Becher wieder ab und sah zu, wie Korben ihn nahm und
zum Feuer trug. Dort blickte er eine Weile in den Trank, bevor er ihn ins Feuer
goss. Es zischte und eine Dampfwolke stieg auf, die frisch und würzig roch.
»Wolfszahn«, sagte Korben,
ohne sich umzudrehen. Er starrte ins Feuer.
Sallie kannte die Pflanze, die
so hieß. »Kleine rote Beeren«, ergänzte sie.
Korben nickte. »Eine einzige
davon würde ausreichen, damit eine ganze Tischgesellschaft sich in Krämpfen
windet und stirbt. Das Kraut ist weniger giftig, aber wenn du von dem Tee
getrunken hättest, wärst du eingeschlafen, ohne wieder aufzuwachen.«
Sallie schauderte. »Hättet Ihr
mich davon trinken lassen?«
Er blickte weiter ins Feuer
und gab ihr keine Antwort.
Sallie rieb den Daumen, auf
dem ein Tropfen von dem Gebräu gefallen war, an ihrer Schürze trocken. »Habt
Ihr schon einmal jemanden vergiftet?«
Sie erahnte ein Nicken.
»Manchmal ist es notwendig, etwas zu tun, das ...« Er beendete den Satz mit
einer resignierten Handbewegung.
Sallie hörte auf, ihren Daumen
zu reiben, von dem längst jede Spur des giftigen Tranks entfernt war. »Was seid
Ihr für ein Mensch?«, sagte sie heftig. »Ein Apotheker sollte heilen, nicht
töten!«
Er drehte sich zu ihr um. Das
Kaminfeuer in seinem Rücken verlieh seiner krummen Gestalt eine rötliche
Aureole. »Du redest klug daher«, sagte er. »Aber vielleicht solltest du mit
deinem Urteil warten, bis du ein wenig mehr Erfahrung gesammelt hast.«
Sallie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass ich jemals anders darüber denken werde«, gab sie zurück.
Er lachte. Sallie sah das böse
Funkeln in seinen Augen. »Ich sitze hier seit Jahrhunderten und sehe dabei zu,
wie mein Geist langsam zerfällt und mein Herz zu Stein und Staub wird«, sagte
er. »Warum hast du mich so lange warten lassen? Wo warst du, während ich hier
ausharrte?« Sein Blick ruhte zwar auf ihr, aber der Apotheker schien durch sie
hindurch auf etwas zu sehen, das jenseits der Zeit lag. Ein kalter Luftzug
wehte ihr in den Nacken, als öffnete sich eine Tür, und Sallie saß wie gebannt.
Ich wandere , antwortete eine ferne geisterhafte Stimme. Das kalte Land, das nicht Leben ist und nicht Tod,
durchquere ich von Grenze zu Grenze. Ich schlafe, und der Schlaf ist nicht Tod
und nicht Leben. Ich träume und jeder Traum ist Kampf und Schrecken und Tod.
Meine Kräfte sind geschwunden, mein Lebensmut verbraucht. Solange du auf mich
gewartet hast, habe ich um meine Rückkehr ins Land der Lebenden gekämpft. Jetzt
bin ich so nah, dass ich euch sehen und hören kann. Warte noch ein wenig
länger, mein geduldiger Freund. Nur noch ein klein wenig länger . Die
Stimme verklang und Sallie konnte sich wieder bewegen. Sie fuhr herum, aber
hinter ihr stand niemand.
»Wer war das?«, fragte sie,
obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte.
Der Apotheker gab ihr keine
Antwort. Er stocherte mit dem Schürhaken im Feuer herum. »Geh zum Gärtner«,
sagte er nach einer Weile mit rauer Stimme, und es schien Sallie, als weinte
er. »Ich habe Kräuter bei ihm bestellt. Sag ihm, er soll auch noch zwei Bündel
Wolfszahn dazutun.«
Sallie sprang auf und lief zur
Tür. Nur hinaus, weg von diesem Ort, von diesem Mann.
Es war kalt. Sallies Schritte
hallten laut von den Mauern wider. Der Weg hinab in den Küchentrakt erschien
ihr weiter als sonst, aber vielleicht war sie auch nur müde. So müde, dass ein
Schleier über ihren Augen lag, den sie vergeblich fortzublinzeln versuchte.
Sie blieb am oberen
Treppenabsatz stehen und stützte sich gegen das Geländer. Kalt und ein wenig
feucht lag es unter ihren Händen. Sallie
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