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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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sah sich um. Hier neben der Säule war
ein Wolfskopf Zeichen. Sollte sie es benutzen, um schneller in den Garten zu
gelangen?
    Sie ließ ihre Finger über die
Mauer gleiten und erfühlte raue Steine und tiefe Fugen, aber keinen Wolfskopf.
Sallie beugte sich hinab und musterte die Wand. Hier, etwa in Brusthöhe, hätte
ein kleines rotes Wolfszeichen in den Stein gemeißelt sein müssen. So oft hatte
sie es benutzt, dass ihre Finger es gewöhnlich ohne die Hilfe der Augen fanden.
    Sallie schüttelte den Kopf.
Wahrscheinlich irrte sie sich und es war doch der andere Treppenaufgang, an dem
das Zeichen angebracht war. Eingemeißelte Wolfsköpfe konnten schließlich nicht
einfach so verschwinden.
    Sie lief die Treppe hinunter
und durch den Küchengang, an der Küche vorbei, an den Wirtschaftsräumen und der
Kellertür. Sie stieß die Hoftür auf und war schon ein halbes Dutzend Schritte
hinausgelaufen, als sie den Nebel bemerkte. Er war so dicht, dass sie den Weg
nur ein paar Schritt weit erkennen konnte. Die Obstbäume standen wie Schemen in
dem trüben Dunst, und von ihren Ästen wehten Nebelschleier wie zum Trocknen
aufgehängte Gardinen.
    »Was für ein Nebel«, sagte sie
laut.
    »Ganz schlecht fürs Gemüse«,
antwortete eine griesgrämige Stimme. Die Gestalt des Gärtners schälte sich aus
dem Dunst. »Du kommst wegen der Kräuter für die Apotheke?«, fragte er. »Warte,
ich habe sie schon bereitgestellt.« Er verschwand wieder in der dicken
Nebelsuppe.
    »Wolfszahn«, rief Sallie
hinter ihm her. »Der Apotheker braucht noch zwei Bündel Wolfszahn.« Sie wusste
nicht, ob er sie gehört hatte.
    Als es ihr zu langweilig
wurde, an der Tür zu warten, ging Sallie ein paar Schritte den Weg entlang. Es
war kühl, aber nicht so eisig klamm wie im Haus. Der Nebel setzte sich auf ihre
Kleider, bis sie über und über mit wasserklaren Perlchen besetzt zu sein
schienen. Alle Geräusche waren gedämpft und erschienen weit weg – das Tappen
ihrer Füße, das Rascheln, wenn sie einen Zweig streifte, ihr eigener Atem.
    Sie blieb stehen und lauschte,
dann ging sie den Pfad weiter, der sich zwischen Gesträuchwänden und dunkel und
starr emporgereckten Baumstammsäulen hindurchschlängelte. Der Nebel zauberte
aus dem Garten ein zweites Haus, weniger massiv als das erste und mit
Zimmerdecken, die aus flauschigen Tüchern zu bestehen schienen. Sallie lief wie
verzaubert weiter. Dies hier musste der Obstgarten sein, aber ebenso gut hätte
es sich um einen Ballsaal mit einer säulengerahmten Tanzfläche handeln können.
    Sallie blieb stehen, spürte
das feuchte Gras unter den Füßen wie einen weichen Teppich und drehte sich mit
ausgebreiteten Armen im Kreis. »Tanz mit mir«, rief sie übermütig. »Komm, mein
Prinz, und tanz mit mir!«
    Zwischen den Baumsäulen glitt
ein Schatten hindurch, und Sallie hörte flüsterleise Schritte. Sie erstarrte,
ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der Wolf, dachte sie. Der Wolf – er kommt und
frisst mich mit Haut und Haaren und Knochen und Kleidern!
    Und obwohl sie gewiss war,
dass der große graue Nebelwolf sich ihr näherte, obwohl sie seinen Atem zu
spüren glaubte und das Funkeln seiner Augen sah, das den Nebel durchdrang,
konnte sie kein Glied rühren, um fortzulaufen und sich vor ihm zu verstecken.
Sie blieb und erwartete ihn mit stockendem Atem.
    Dann erschien der Wolf
zwischen den dunkel aufragenden Bäumen, verharrte einen Moment und schnürte
durch die Nebelschwaden auf sie zu. Und während er sich näherte, sah Sallie
voller Erleichterung, dass es doch ein Mensch war, der dort kam. Er näherte
sich, und sie glaubte den Grauen Herrn zu erkennen, und er kam ganz nahe,
sagte: »Hier bin ich«, und sie sah, dass es ein wohlgestalter junger Mann war,
mit aschblondem Haar und nebelfarbenen Augen, in feinen, silbergrauen Kleidern,
der sie anlächelte und ihr seinen Arm zum Tanz reichte.
    Er befahl mit einer
Handbewegung »Musik«, und Sallie drehte sich mit ihm zu der Tanzweise, die wie
Wassertropfen von den Büschen perlte. Die Nebelschleier wehten um sie wie weite
Gewänder, und Zweige und Blätter bewegten sich im Rhythmus der Tropfenmusik,
sodass es aussah, als tanzten sie in einem Kreis grauer Gestalten, die einander
die Köpfe zuneigten und zustimmend und freundlich nickten und wisperten.
    Sallie geriet außer Atem, aber
der Arm des jungen Mannes hielt sie sicher und fest, und der Druck seiner Hand
war kühl und beruhigend. Sie blickte in seine Augen, die weder grau noch blau
noch golden

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