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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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beklommen.
    »Einen seiner ältesten
Freunde«, erwiderte der Vogel. Er krächzte und schlug zornig mit den Flügeln.
Das trockene Laub wirbelte auf und nahm Sallie die Sicht.
    »Wen meinst du, Rabe?«, rief
sie verzweifelt, denn sie erkannte durch den laut raschelnden und durch die
Luft tanzenden Blätterwirbel, dass der Vogel sich in die Luft schwang.
    »Den Hexenmeister, den
schwarzen Ben«, rief der Rabe von hoch oben zu ihr herab. »Du musst dich mit
dem Apotheker messen.« Dann war er fort und ließ Sallie verwirrt und verstört
inmitten des Laubs zurück, das langsam rund um sie herum wieder zu Boden
tanzte.
     
     
     
     
     
    14
     
     
    Trotz des dichten Nebels fand
Sallie zum Haus zurück. An der Tür stand ein Korb mit frischen Kräutern, den
sie gedankenverloren aufhob und hineintrug. Sie sah kaum, wohin sie ging, und
erst als sie am Fuß der Treppe angelangt war und sich die Zehen an der
untersten Stufe anschlug, bemerkte sie, dass Nebel über den Boden zog, still
und kühl um ihre Knöchel wogte, in dünnen Schleiern an den Wänden emporkroch
und unter der hohen Decke hing wie die allerfeinste Dekoration aus Tüll.
    Sallie zog ihr Schultertuch
enger, dachte mit flüchtigem Bedauern an das wunderschöne Ballkleid und lief
die Treppe hinauf. Der Wolfskopf im oberen Korridor neben dem Durchgang zum Ostflügel
war ebenso verschwunden wie sein Gegenstück am anderen Treppenaufgang. Sallie
starrte die Stelle an, wo er sich eigentlich hätte befinden müssen, dann zuckte
sie mit den Schultern und lief weiter. Der Korb mit den Kräutern schlenkerte
gegen ihre Beine.
    Als Sallie die Tür der
Apotheke öffnete, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Sie trat ein und stellte den
Korb auf den Tisch. Es erleichterte sie, dass der Apotheker nicht da war, und
sie huschte ins Hinterzimmer, um das Buch aus ihrem Bündel zu holen.
    Sie fand es nicht. Nach dem
ersten flüchtigen Durchwühlen ihrer wenigen Habseligkeiten breitete sie alles
auf dem Bett aus und drehte und wendete jedes Teil um und um. Ein dünnes
Schultertuch, ein Paar ziemlich löchriger Strümpfe, ein zerrissenes und wieder
geflicktes Haarband, die zerbeulte Zunderbüchse, eine schrumpelige Kastanie,
das halb blinde, unregelmäßig geformte Spiegelchen mit der perlmutternen
Rückseite, das so schmeichlerisch glatt in den Fingern lag, eine winzige Dose,
die sie einmal im Garten gefunden hatte, leer, aber wunderbar duftend, ihr zahnlückiger
Kamm – »Kein Buch«, sagte Sallie ratlos. Hatte sie das Büchlein verloren? Sie
konnte sich nicht denken, wo und wann das geschehen war. Vielleicht befand es
sich in der Bibliothek. Bücher, die man irgendwo liegen ließ, wanderten
bestimmt in die Bibliothek zurück, sagte sie sich voller Hoffnung. Und dann
wusste Uhl, wo es war, denn Uhl wusste immer, wo er nach einem Buch suchen
musste.
    Sie steckte das kleine
Spiegelchen in ihre Schürzentasche, packte ihre Schätze wieder ein und schob
sie unters Bett. Dann öffnete sie die Tür, in Gedanken schon halb in der
Bibliothek, und prallte gegen Meister Korben, der auf seinen Stock gestützt
dastand und auf sie wartete.
    »Da bist du ja«, sagte er
nicht besonders freundlich. »Soll ich dir nun etwas beibringen oder nicht?«
    Sallie starrte ihn an. Mit ihm
sollte sie also kämpfen, bevor sie sich dem Nebelkönig selbst stellte. Sie
schüttelte unwillkürlich den Kopf. Was für eine absurde Vorstellung! Sie, ein
kleines Küchenmädchen, sollte sich mit
    Männern messen, die so viel
älter und erfahrener waren als sie!
    »Nein? Na, mir soll es recht
sein, ich habe durchaus Besseres zu tun«, unterbrach der Apotheker barsch ihre
Gedanken. Er wandte sich zur Tür.
    »Nein, bleibt«, rief Sallie.
»Verzeiht, ich habe an etwas anderes gedacht.«
    Mit einem unwilligen Knurren
machte er kehrt und nahm den Korb mit den Kräutern, die er auf den Tisch
schüttete. »Waschen und trocken schütteln«, sagte er.
    Sallie griff sich die herb
duftenden, raschelnden Pflanzen und legte sie in die große Schüssel. Sie ließ
Wasser darüberlaufen und wusch sie, wie sie auch die Küchenkräuter zu waschen
pflegte. Der Apotheker stand neben ihr und sah zu.
    »Gut, das beherrschst du
zumindest schon mal«, sagte er, als Sallie die Kräuter trocken geschüttelt und
dann mit einem sauberen Leintuch abgetupft hatte.
     
    Sallie hielt inne. »Warum seid
Ihr so wütend auf mich?«
    »Ich bin nicht wütend«,
erwiderte er, ohne sie anzusehen. »Breite die Kräuter hier aus. Und nun verlies
sie, wir

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