Der Neid eines Fremden
sie hinzu: »Sie haben so oft zu der Sendung beigetragen, und wir kennen nicht einmal Ihren Namen.«
Sie wünschte, er würde seinen Namen mit Mr. Schwan oder Mr. Sperling angeben, wußte aber, daß ein solcher Zufall zu schön wäre, um wahr zu sein.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. Gilmour, möchte ich meinen Namen nicht nennen. Zu diesem Zeitpunkt fühle ich mich nicht in der Lage, auf eine Flut von Briefen zu antworten.«
Sieh mal an, dachte Rosa, und machte den Fehler, wieder zum Tonraum zu sehen. Louise stand jetzt mit erhobenen Armen hinter der Scheibe. Sie schlug sie auf und ab, wobei sie mit dem Mund ein lautes Kreischen imitierte.
Der Vogelmann hatte die Flatter gemacht. Eine Frau aus dem sechsundzwanzigsten Bezirk begann über ihre Tochter zu reden, die seit sechs Jahren auf der Warteliste für Sozialwohnungen stand und immer wieder übergangen wurde, »weil sie dieses kleine persönliche Problem hat«. Zusammen mit Tausenden von Radiohörern horchte Rosa gespannt auf, doch der Stundenzeiger der Studiouhr rückte vor und ließ sie für immer über Anna Maries Makel im dunkeln. Vielleicht war es besser so. Rosa hatte oft den Eindruck, daß »da draußen« ein hochexplosives Gemisch aus Frustration und Verzweiflung vor sich hinbrodelte, und war dankbar, in dem abseitigen und schalldichten Senderaum zu sitzen.
Sie verabschiedete sich von ihren Hörern, bedeutete Louise mit einem Zeichen, den Musikabspann und die Ansagerin einzuschalten und verließ das Studio in Richtung Kontrollraum. Die nächste Sendung war schon auf Band. Louise überprüfte die Tonstärke, ließ das Band ablaufen und nahm ihre Kopfhörer ab. Rosa lächelte sie an.
Louise fragte: »Was meinst du, wie er heißt?« Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Marsriegel hervor.
»Keine Ahnung. Eigentlich will ich's auch nicht wissen. Armer alter Kerl.«
»Vielleicht ist er gar nicht so alt.«
»Oh - da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich wohnt er im Osten von London in einer kleinen Sozialwohnung mit Balkon. Bestimmt achtet er auf ein sauberes und gepflegtes Aussehen und wechselt jeden Tag das Hemd.«
»Und in seinem Bad wird immer etwas Wäsche hängen.«
»Bei gutem Wetter wird er sie an einer Wäscheleine auf seinem Balkon trocknen. Vielleicht hält er sich dort sogar in einem Verschlag ein Kaninchen.«
»Aber auf keinen Fall Vögel in einem Käfig.«
Louise hatte selbst etwas Ähnlichkeit mit einem Vogel, dachte Rosa. Ihr kanariengelbes Haar fiel, weich wie das Gefieder eines Jungvogels, auf ihre Schultern, und ihr Körper war zartgliedrig wie der eines Spatzen. Wie immer trug sie eine außergewöhnliche Kombination aus verschiedensten Kleidungsstücken: bunte Stiefel (ein Rautenmuster aus vielfarbigen Wildlederstreifen), zwei Röcke - der eine war aus ockerfarbenem Samt und reichte ihr bis an die Stiefelspitzen, während der andere, übersät mit winzigen Spiegeln und ausgefallener Stickerei, nicht länger war als eine Schürze. Dazu trug sie einen Pullover mit weiten Ärmeln aus spitzenähnlichem Stoff und eine Patchworkweste mit flatternden Bändern. Anmutig biß sie in einen Marsriegel.
»Der wievielte ist das heute?«
»Der fünfte. Nein, ich hab' gelogen, der sechste.«
»Es ist erst zwölf Uhr.«
»Ich hatte zwei zum Frühstück.«
»Ich hab' gedacht, du wolltest dich einschränken.«
»Ich hab' mich eingeschränkt. Gestern hatte ich drei zum Frühstück.«
»Ahhh ...«
»Und ich habe entdeckt, daß man eine umwerfende Zuckersauce machen kann, wenn man sie in einem Turmtopf schmilzt.« Bei der Erinnerung leuchteten Louises Augen auf. »Man kann sie über alles gießen. Wie Bratensaft.«
»Wenn du vierzig bist, wirst du das bereuen.«
Das einzige Problem war, daß Louises Haut glänzte wie das Innere einer Muschelschale, und sie in der Taille neunzehn Zoll maß. Ein Zoll für jedes Jahr. Warum sollte sie glauben, daß weitere zwanzig Jahre sie in eine mütterliche Matrone verwandeln würden? Rosa dachte daran, wie sie sich mit neunzehn Jahren gefühlt hatte. Man war sich nicht nur sicher, daß man nie im Leben vierzig würde, sondern fühlte sich unsterblich.
»Kommst du zum Mittagessen mit in die Kantine, Rosa?«
»Nein. Ich hab' noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Außerdem vergeht einem der Appetit, wenn man dir beim Mampfen zusieht.«
»Schade ... Der arme DufTy.«
Mike Duffield,
Weitere Kostenlose Bücher