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Der Neid eines Fremden

Der Neid eines Fremden

Titel: Der Neid eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Graham
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Blut tropfte. Unter den Erwachsenen befanden sich Japaner, Araber und ein lautstarker Amerikaner undefinierbaren Geschlechts, der eine karierte Melone trug.
      »Haben Sie bereits gewählt?«
      »Tut mir leid ... nein ...« Er überflog die Speisekarte. Er beschloß, keinesfalls etwas so Gewöhnliches wie einen Kaffee zu bestellen, so köstlich er hier auch zubereitet sein mochte. Er hatte die Auswahl zwischen allen möglichen Eis- und Gebäcksorten und getoasteten Sandwiches. Er war ziemlich verwirrt, beschloß aber, seine Ratlosigkeit zu kaschieren.
      »Ich hätte gern ... eine Granita.«
      »Al caffe?«
      »Ja. Ja, gern.«
      Er fühlte sich versucht, den Preis nachzusehen, entschied sich aber dagegen. Wie hieß es doch so schön? Fragt man nach dem Preis, kann man es sich eigentlich nicht leisten. Mit einer hastigen Handbewegung schlug er die Karte zu und reichte sie der Bedienung. Kurz darauf stellte sie ein hohes Glas mit braunschwarzen Kristallen vor ihn, auf denen ein Klecks Sahne schwamm. Daneben lagen ein langer Silberlöffel, eine Serviette und die Rechnung. Letztere ließ er unbesehen in seine Tasche gleiten.
      Er senkte den Löffel in die Sahne und spürte, wie sich die Kristalle am Rand des Glases rieben. Dann zog er den halb mit Granita, halb mit Sahne gefüllten Löffel heraus. Einen Moment lang sah er sich das Gebilde an - die Sahne hatte bereits die Farbe des Eises angenommen und war jetzt kaffeebraun -, dann schob er es in den Mund.
      Nie zuvor hatte er etwas gekostet, das dieser Granita auch nur im entferntesten gleichkam. Sie schmeckte bitter und süß zugleich, und der Genuß wurde durch den Duft der frisch gerösteten Kaffeebohnen noch gesteigert. Die Sahne hatte einen leichten Vanillegeschmack, der das Kaffeearoma der Granita betonte. In seiner warmen Mundhöhle blieben die verschiedenen Zutaten nur einen Moment getrennt, dann verschmolzen sie zu einer köstlichen Mischung, die sich ebenso schnell auflöste wie sie entstanden war. Er nahm einen zweiten Löffel. Dann noch einen. Jetzt war noch eine kleine hellbraune Pfütze am Boden des Glases übrig, an die er nicht herangekommen wäre, ohne das Glas zu kippen, wozu er sich niemals herablassen würde. Er legte den Löffel neben das Glas.
      Überwältigt von den Eßgeräuschen und dem Stimmengewirr, hatte er jegliches Gefühl für seine eigene Aufgeschlossenheit verloren. Er fühlte sich wohl und behaglich. Dann erinnerte er sich plötzlich und aus unerfindlichen Gründen an den Kleiderstapel, den er im Ankleideraum zurückgelassen hatte. Irritiert versuchte er, das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. Es gehörte nicht in diese vollkommene Gegenwart. Aber es ließ sich nicht verdrängen. Es nagte an ihm wie die ersten Geräusche des Tages am Ohr des Schläfers, und allmählich ließ das wohlige Zugehörigkeitsgefühl nach. Ihm wurde kalt, und er zog die Rechnung aus seiner Jackentasche.
      Großer Gott! Er legte etwas Kleingeld in die Untertasse, bezahlte an der vergitterten Kasse und ging hinaus auf die Jermyn Street, die in strömendem Regen lag. Er sah auf das Wechselgeld in seiner Hand. Irgendwie mußte er nach Chalk Farm kommen, Sonia zum Abendessen ausführen und nach Kings Cross zurückkehren. Und das alles mit weniger als zwei Pfund.
     
     

* 3
     
    »Wie das hier riecht! Einfach großartig!«
      Das Wetter war trostlos. Ein bleierner Novemberhimmel; schwarze, entlaubte Platanen. In Rosas Büro lag allerdings ein frühlingshafter Duft. Ein warmer, grüner, frischer Geruch, der an aufgehende Blumen und blühende Pflanzen erinnerte.
      »Oh ...«, sagte Sonia wie beiläufig, obwohl sie vor Freude errötete. »Mögen Sie es?«
      »Es ist göttlich. Wie heißt es denn?«
      Sonia legte ihre Stirn in Falten, als müsse sie jeden Morgen zwischen fünfzig verschiedenen Parfüms wählen.
      »Hmm ...«, sie drehte ihr Handgelenk um und schnupperte an der schuppigen Haut. »Joy ... glaub' ich ...«
      »Joy! Mein Gott. Wie machen Sie das bloß? Ich glaube, wir müßten eine zweite Hypothek aufnehmen, bevor ich mir Joy leisten könnte.«
      Sonia sah Rosa kalt und abweisend an. Die Bemerkung über die Redaktion hatte sie noch nicht verwunden, und Rosa sollte sich ja nicht einbilden, sie durch einschmeichelnde Bemerkungen ungeschehen machen zu können.
      »Du meine Güte, Mrs. Gilmour, Sie glauben doch wohl nicht, daß ich mir meine Parfüms selbst kaufe?« Das entsprach tatsächlich der Wahrheit.

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