Der Neid eines Fremden
wählte die harmlosesten aus und begann zu reden.
»Du kommst dir wohl vor wie Hiob, was?« Sie lachte gekünstelt, wie feige Leute es tun, wenn sie beleidigend werden; sie gab vor, es nicht wirklich ernst zu meinen. »Sitzt einfach unerschütterlich da. Deiner Frau wird mit Mord oder Schlimmerem gedroht. Deine Umwelt bricht zusammen. Die Kinder sind unglücklich und haben Angst. Ihr Lieblingstier ist verschwunden. Was muß denn noch alles passieren, bevor du dich rührst, Leo? Hungersnöte? Die Pest? Die Atombombe? Ich seh' dich schon vor mir, wenn sie losgeht - deinen verfluchten Kopf in eine Papiertüte gesteckt.«
»Hör auf, Rosa.« Leo reichte zu ihr hinüber und packte sie an den Handgelenken. »Sofort.«
»Ich weiß, warum dich das nicht schert. Du würdest mich gern von hinten seh'n, was? Hast wohl 'ne gutgebaute kleine Schwester aus dem Krankenhaus gefickt, was? Es dauert nicht mehr lang, dann bin ich vierzig. Es wird Zeit, mich gegen ein neueres Modell einzutauschen.«
Leo schob seinen Stuhl zurück. Er knirschte über den Steinfußboden. »Ich hab' die Nase voll. Ich bin müde. Ich habe heute ein paar äußerst kniffelige Operationen gehabt. Ich weiß, daß eine meiner Patientinnen sterben wird, trotzdem ich alles getan hab', was in meinen Kräften lag. Sie ist jünger als du. Du entwickelst dich zu einer Xanthippe, die sich in Selbstmitleid suhlt. Und jetzt halt um Gottes willen den Mund.«
»O ja, deine Arbeit - deine aufopfernde Arbeit. Ich hatte vergessen, wie wichtig sie dir ist.« Rosa hörte entgeistert zu, wie ihre Stimme, schrill vor Sarkasmus, fortfuhr. »Natürlich läßt du deine ganze Wut dort ab, oder? Kein Wunder, daß du zuhause so ruhig bleibst. Wie fühlt man sich, wenn man in der Lage ist, wehrlose Menschen aufzu-schnippeln? Sie zu zerstückeln? Ich wette, du genießt das, oder? Komm schon, sei ehrlich. Du bist kein Stück besser als dieser verdammte Irre, der mich bedroht. Nur daß du es offiziell machen kannst.«
Wie eben, als es ihr vorgekommen war, als würde ihre Stimme zu einer anderen Person gehören, schien Rosa jetzt außerhalb der Szene zu stehen und sich selbst zuzuschauen, als spiele sich alles auf einer Leinwand ab. Alles geschah in Zeitlupe und in Schwarz und Weiß. Groß und bedrohlich stand der Mann über ihr. Im Hintergrund konnte sie keine Einzelheiten erkennen. Er war einfach aus dem Nichts aufgetaucht und hatte plötzlich resolut und unnachgiebig dagestanden. Langsam holte er mit dem Arm aus, als bereite er sich darauf vor, sie zu schlagen. Seine Kleidung war vollkommen grau, aus seinem Gesicht stachen kohlrabenschwarze Augen hervor, unter denen dicke Ringe lagen. Der Kontrast war grob und spannungsvoll zugleich. Er sah aus wie ein Schauspieler in einem Stummfilm. Die Frau hatte sich ebenfalls erhoben. Sie wirkte auch grau, und eine Fülle von Schlangenköpfen schien ihr wie das Medusenhaar über die Schultern zu fallen. Sie öffnete zweimal den Mund und schrie: »Schlächter!« Rosa hörte sie sehr genau und dachte: Jetzt dreht sie durch. Dann begann sich der Arm des Mannes langsam auf den Kopf der Frau zuzubewegen. Weit davon entfernt auszuweichen, schien sie ihm ihr Gesicht begierig entgegenzuhalten, als wolle sie den Schlag herausfordern. Rosa schrie: »Nein. Nein.« Sie versuchte sich zwischen die beiden Gestalten zu drängen. Dann klingelte das Telefon. Sofort ließ das Gefühl einer doppelten Wirklichkeit nach. Das Bild wurde wieder farbig. Leo ließ seinen Arm sinken. Rosa legte den Kopf auf die Brust. Ihr Ärger war verflogen, und sie fühlte sich erbärmlich. Leo verließ den Raum, und sie rannte hinter ihm her. Sie stand an der Wohnzimmertür und hörte ihm zu.
»Ja, aber sie fühlt sich nicht wohl. Ich bin Mr. Gilmour.« Einen Augenblick später fragte er: »Wo ist das genau?« und schrieb etwas auf. Dann: »Ja, aber ich bin nicht sicher, wann das möglich sein wird. Ich werde zurückrufen.« Er schrieb noch etwas auf und legte den Hörer auf die Gabel zurück.
»Wer war das? Was ist passiert?«
»Das war die Polizei.« Er ging zur Chesterfieldcouch hinüber. »Es scheint, als hätten sie ihn gefaßt.«
»Ihn?« Rosa runzelte die Stirn. »Wen?«
»Herrgott noch mal - wen wohl? Den Mann, der dies alles getan hat.«
»Oh.« Sie zog den nächstbesten Stuhl zu sich heran und setzte sich. Sie wartete darauf, etwas wie Erleichterung, Glück oder Freude zu verspüren. »Bist du dir
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