Der neue Frühling
sinken und läßt das Licht auf sich zufluten, und es ist sanft und voll Liebe. Sie gewinnt daraus frische Kräfte. Und sie rennt weiter und tiefer in diesen kristallinen Bereich jenseits der Ermüdung hinein.
Wieder vernimmt sie die Stimmen. Dawinno, Friit, Emakkis, Mueri, Yissou… Zerstörer – Heiler – Ernährer – Tröster – Beschützer.
»Die Königin«, murmelt Nialli. »Wo ist die Königin? Warum kommt SIE mir denn jetzt nicht zu Hilfe?«
»Ach, Kindchen. Sie ist WIR – wir sind SIE. Verstehst du denn nicht?«
»Ihr seid die Königin?«
»Die Königin ist Wir.«
Sie bedenkt das.
Ja, denkt sie. Ja, natürlich, so ist es.
Auf einmal kann sie wieder denken. Ihre Augen sind offen. Sie kann wieder die Sterne sehen, und sie kann die vielen Welten sehen und das leuchtende Netzgewebe der Königin-Liebe, das die Welten zusammenhält. Und sie weiß, daß alles eins ist, daß es keine Differenzen gibt, keine Abstufungen, keine Abgrenzungen zwischen einer und den anderen Formen von Realität. Bisher hat sie das nie bemerkt. Jetzt aber sieht sie und hört und akzeptiert es.
»Siehst du uns, Kind? Hörst du uns? Fühlst du unsere Nähe? Erkennst du uns?«
»Ja! O ja!«
Formlose Gestalten. Gesichter ohne Individualstrukturen. Mächtige Klanggebilde hallen durch die sich lagernden Schatten. Aber Licht sprudelt von überallher, aus dem Inneren heraus. Dichte. Fremdheit. Rätselhaftigkeit. Sie ist umgeben von – Gotthaftigkeit ringsum. Schönheit. Frieden. Ihr Gehirn lodert, aber es ist ein kühles weißes Feuer, das alle Schlacken ausbrennt. Aus der Erde dringt ein dröhnender Laut, der sich bis zum Firmament erhebt, doch es ist ein süßes Dröhnen, und es umfängt sie schützend wie eine Hülle. Die Fünf Himmlischen sind überall, und Nialli ruht in ihrer Umarmung.
»Ich begreife«, flüstert sie. »Die Königin – der Erschaffer – Nakhaba – die Fünffaltigkeit – alles ist ein und dasselbe, nur verschiedene Aspekte ein und derselben Wesenheit…«
»Ja. Ja.«
Die Nacht kommt nun rasch. Der schwerhängende Himmel hinter Nialli streift sich mit Blau, mit Scharlachrot, Purpur, mit Grün. Vor ihr das Dunkel. Laternenbäume entzünden sich. Überall tauchen Dschungelbewohner auf. Rings um Nialli flirren schimmernd Flügel und Hälse und Krallen und Schuppen und Gebisse.
Sie sinkt auf die Knie. Sie kann nicht mehr weiter. Als ihr Denkvermögen sich wieder herstellte, kehrte auch die reale Erkenntnis ihrer völligen Erschöpfung zurück. Sie gräbt die Hände in den warmen feuchten Erdboden und krallt sich dort fest.
Aber dann hat es den Anschein, nur kurz, während sie dort so zitternd und keuchend und furchtbar erschöpft kauert, daß sie wieder ganz allein sei – bis auf all diese Kreaturen, die in der schwärzer werdenden Nacht um sie herum kreischen und keckern und brüllen und zischen. Sie verspürt ein kleines furchtsames Frösteln. Wohin sind die Götter verschwunden? Ist sie vielleicht so schnell gelaufen, daß sie hinter ihr zurückgeblieben sind?
Nein. Sie kann sie ja immer noch nahe fühlen. Sie braucht sich ihnen nur zu öffnen, und sie sind da.
»Ja, Kind, hier bin ich. Ich bin Mueri. Ich bring dir Trost.«
»Hier. Yissou. Ich beschütze dich.«
»Emakkis. Ich werde dich nähren.«
»Ich bin Friit. Ich heile dich.«
»Ich bin Dawinno. Ich werde dich – verwandeln – verwandeln – verwandeln – Kind.«
Es war die fünfte Woche von Thu-Kimnibols Aufenthalt in der Stadt Yissou. Mit den sachlichen Verhandlungen über ein Militärbündnis zwischen Salaman und dem Stadtstaat Dawinno hatte man noch nicht begonnen; man steckte noch in den Vorgesprächen, die zudem noch recht wenig handfest waren. Salaman schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Er wich Thu-Kimnibols Versuchen, endlich zum Kern der Sache zu kommen, beständig aus. Statt dessen erfreute der König ihn mit immer neuen, nie endendwollenden Festen und Feiern, als betrachte er ihn als ein Mitglied der königlichen Familie, und das Mädchen Weiawala teilte Nacht um Nacht sein Lager mit ihm, als wären sie einander bereits anverlobt. Und er hatte sich ja nun wirklich sehr rasch daran gewöhnt, sich ihre eifervoll bereitwillige Leidenschaft gefallen zu lassen. Irgendwie war ihm dadurch wieder der Geschmack am Lebendigsein zurückgekehrt.
Also beunruhigte ihn der schleppende Fortschritt der Verhandlungen nicht. Es bot ihm die Möglichkeit, die schmerzliche Wunde nach Naarintas Tod ausheilen zu lassen, daß er hier so weit
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