Der neue Frühling
daß die Vorladung erst jetzt erfolgte.
Aber auch Salaman standen einige Überraschungen bei der Begegnung bevor.
Er hatte sich vorgestellt, daß der Anführer dieser Sekte irgend so ein wildäugiger Fanatiker sein würde, reizbar und aufbrausend, mit Schaum vor dem Mund, der brüllen und geifern und unverständliche Reden brabbeln würde. In einem sollte er immerhin recht behalten: Zechtior Lukin war über allen Zweifel hinaus ein Fanatiker. Alles an ihm – die Kiefer wie Stahlklammern, der steinern-kalte freudlose Blick seiner Augen, die kompakte muskulöse Gestalt unter dem weißlich-grauen Fell – verriet eine außergewöhnliche Engstirnigkeit und Zielstrebigkeit und Hingabe an seinen absurden Glauben. Und höchstwahrscheinlich war er auch leicht reizbar.
Aber ein Brüller? Ein Geiferer? Ein Brabbler unverständlicher Rede? Nein! Der Mann da war cool und zäh und zeigte eine eisige Zurückhaltung, die Salaman sogleich als seiner eigenen verwandt erkannte. Dieser Mann hier vor ihm, er hätte gewißlich ein König werden können, wenn die Dinge in den frühen Jahren der Stadt ein wenig anders verlaufen wären. Statt dessen war er ein Schlachter geworden, ein Fleischhauer, und statt in einem steinernen Palast verbrachte er seine Tage im Schlachthaus und zerhackte Knochen und Lendenstücke und Rückenhälften inmitten von Strömen von Blut. Und abends trafen er und seine Gefolgsleute sich in einer zugigen Turnhalle im Ostviertel und drillten sich gegenseitig die sonderbaren Dogmen ihres Glaubens in die Köpfe.
Breitschultrig stand er in ruhiger Unerschrockenheit vor dem König.
»Wann habt ihr mit der Sache angefangen?« fragte der König.
»Vor Jahren.«
»Wann? Vor drei Jahren? Fünfen?«
»Nein, fast schon seit Gründung der Stadt.«
»Nein, das ist unmöglich«, sagte Salaman, »daß es euch schon so lang geben sollte, ohne daß ich von eurer Existenz auch nur ein Wort gehört hätte.«
Zechtior Lukin zuckte die Achseln. »Wir waren nur sehr wenige und blieben ziemlich für uns. Wir studierten unsre Texte, hielten unsere Versammlungen und übten uns in unseren Disziplinen, und wir zogen nicht los, um zu missionieren. Es war unsere Privatangelegenheit. Mein Vater Lakkamai war der erste Gläubige, dann…«
»Lakkamai?« Schon wieder eine Überraschung. In den Zeiten des Kokons und später in Vengiboneeza war dieser Lakkamai ein schweigsamer Kerl gewesen, der sich keinem anschloß, ein Typ von sehr geringem seelischen Tiefgang. In Vengiboneeza war er der Geliebte der Opferfrau Torlyri gewesen, aber als es zur Großen Spaltung kam, hatte Lakkamai Torlyri ohne Bedenken aufgegeben und war mit Harruel fortgezogen, um dann einer der Gründerväter der winzigen Niederlassung zu werden, aus der sich die Stadt Yissous entwickeln sollte. Jetzt war er schon lange tot. Salaman vermochte sich nicht daran zu erinnern, daß er sich jemals eine Gefährtin genommen oder gar einen Sohn gezeugt hätte.
»Du hast ihn gekannt.« Es war keine Frage.
»Vor vielen Jahren, ja.«
»Lakkamai lehrte uns, daß das, was der Großen Welt geschah, in der Absicht der Götter lag. Er sagte, alles, was geschieht, ist Teil ihres Planens, gleichgültig, ob es uns als gut oder übel erscheint, und als die Völker der Großwelt sich zum Sterben anschickten, so, weil sie den Willen der Götter verstanden und wußten, daß ihre Zeit gekommen war, von der Welt Abschied zu nehmen. Darum rührten sie keinen Finger, um die Todessterne abzuwehren, ließen sie auf die Welt herabsausen, und die Große Kälte kam über sie alle. Das alles, sagte uns Lakkamai, hat er in Gesprächen mit Hresh gelernt, dem Chronisten des Koshmar-Stammes.«
»Stimmt«, sagte Salaman. »Wenn man mit Hresh redet, hat man hinterher den ganzen Kopf voller Hirngespinste und Seltsamkeiten.«
»Es sind Wahrheiten!« sagte Zechtior Lukin.
Salaman zog es vor, die derbe Widerrede zu ignorieren. Es lohnte nicht, mit dem Kerl zu streiten. »Also, im Anfang gab es bloß ein paar von eurer Sorte. Eine Handvoll Familien, wenn ich dich recht verstehe? Nun aber berichtet mir mein Sohn, daß eure Zahl einhundert und neunzig beträgt.«
»Dreihundert und siebzig und sechs«, berichtigte Zechtior Lukin.
»Aha.« Wieder ein Strafpunkt gegen Athimin. »Und ihr habt also jetzt beschlossen, euch doch in die Missionierung zu stürzen und neue Anhänger zu werben, stimmt’s? Warum?«
»In meinen Träumen erschien mir die Hjjkkönigin am Himmel über unsrer Stadt schwebend. Ich spürte
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