Der neue Frühling
bleiche Ding, diese monströse Masse bebenden uralten Fleisches… Hunderte von Jahren alt? Tausende? Hresh konnte nicht einmal eine Vermutung darüber aufstellen. Er bezweifelte allerdings, daß SIE aus der Zeit der Großen Welt überlebt hatte, obwohl – unmöglich war auch das nicht. Alles war hier möglich. Er sah nun – fundierter als je zuvor –, wie anders die Hjjks waren, wie fremd, wie wenig sie in fast allem seinem VOLK ähnlich waren.
Und dennoch, sie sind ‚menschlich’, dachte er. Menschlich in jenem besonderen, ganz speziellen Sinn, den er vor langer Zeit sich ausgedacht hatte: Sie bewahrten sich ein Bewußtsein für Vergangenheit und Zukunft, sie begriffen das Leben als einen Prozeß, als Entfaltung, Entwicklung, sie waren in der Lage, eine historische Tradition von einer Generation zur nächsten Generation aufzubauen. Die kleinen flinken Garaboons, die in den Wäldern herumkreischten, wußten nichts und lernten nichts hinzu, und sie endeten mit nichts. Und dies traf auch auf alle anderen Tiere unterhalb dieses ‚Hreshischen Menschen’-Niveaus: für die Gorynthen, die sich in den Schlammsümpfen wälzten; für die zornigen, ewig kreischenden Samarange, die edelsteinäugigen Khut-Fliegen und so fort. Sie hätten ebensogut Steine sein können. Zur Menschhaftigkeit, dachte Hresh, gehört nun einmal die Erkenntnis von Zeit und Jahreszeiten, das Sammeln und Aufbewahren und Weiterreichen von Wissen und vor allem: etwas aufbauen und es erhalten. Und nach dieser Begriffsdefinition war Hreshs VOLK ‚menschlich’; sogar die Caviandis waren es; und definitionsgemäß also auch die Hjjks… Menschlichkeit, das bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zu jener geheimnisvollen uralten Gattung schwanzloser Bleichlinge. Es war viel umfassender, viel universaler. Und es schloß die Hjjks ein.
Er sprach zu Nest-Denker: »Dies war eines der außergewöhnlichsten Erlebnisse meines Lebens. Ich danke den Göttern, daß ich diesen Tag erleben durfte.«
Es erfolgte keine Antwort.
»Was meinst du, werde ich noch einmal zu einer Audienz zu IHR geladen werden?« fragte Hresh.
»Du wirst es zur rechten Zeit erfahren, wenn es der Fall ist«, antwortete Nest-Denker. »Und dann wirst du wissen.«
Nest-Denker klang ein wenig verdrießlich, und Hresh überlegte, ob der Hjjk ihm die tiefe Kommunion neidete, die er mit der Königin hatte erreichen können. Aber es war gefährlich, wenn man hjjkischen Äußerungen Gefühlsvaleurs unterstellte, wie sie beim VOLK gängig waren.
Inzwischen hatten sie fast die obere Etage erreicht. Hresh erkannte gewisse Artefakte wieder, die in Wandnischen lagen: einen glatten weißen Stein, der fast wie ein Riesenei aussah; einen geflochtenen Stern wie jener von Nialli, doch viel größer; einen kleinen roten Edelstein, in dem ein helles tiefes Feuer brannte. Sie waren ihm beim Beginn des Abstieges aufgefallen. Heilige Hjjk-Talismane? Vielleicht. Oder vielleicht auch bloße Dekorationsstücke.
Seit dem Eintreffen im Nest hatte Hresh in einer nüchternen Zelle an einem der äußeren Korridore gehaust – vielleicht einer Art von Isolations- oder Quarantäne-Trakt für frisch zugereiste Fremde. Es war eine runde Kammer mit einer niederen flachen Decke, auf dem hartgestampften Erdboden eine Schütte von getrockneten Binsen, die ihm als Lager diente; aber alles in allem für seine Anspruchslosigkeit bequem genug. Er freute sich jetzt auf sein Gemach. Zeit haben, um sich zu erholen und zu überdenken, was ihm soeben widerfahren war. Vielleicht würde man ihm später irgend etwas zu essen bringen, das Trockenobst und die Riegel in der Sonne gedörrten Fleisches, die hier die einzige Kost zu sein schienen, an die er sich jedoch ohne Schwierigkeit gewöhnt hatte.
Nun waren sie an der Spitze der Spiralrampe angelangt, an der Stelle, wo es zum Oberstock ging. Hier wandte Nest-Denker sich nicht nach links, wo Hreshs Zelle lag, sondern genau entgegengesetzt. Hresh zögerte. Er überlegte, ob ihm sein Orientierungssinn wieder einmal einen Streich spiele, wie schon so oft während seines Aufenthalts hier. Aber diesmal war er ganz sicher: Seine Zelle lag links. Aber Nest-Denker, der mittlerweile ein Dutzend Schritt vor ihm war, fuhr herum, schaute zurück und winkte ihm ungeduldig zu.
»Du wirst mir folgen.«
»Ich möchte gern in meine Schlafkammer. Ich glaube, die ist in der Richtung.«
»Du wirst mir folgen«, wiederholte Nest-Denker langsam.
Im Nest kam Ungehorsam einfach nicht in Frage. Hresh
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