Der Neue im Sportinternat
Grusel im alten Keller des großelterlichen Hauses gesucht. Hinter jeder Ecke hat der kleine Leon ein Gespenst vermutet und sich gewissermaßen sehnlichst eins gewünscht, selbstverständlich ein nettes so wie Caspar aus dem gleichnamigen Hollywood-Film. Ein Schloss kann das ohne Frage locker toppen!
Leon steht vom Bett auf und achtet darauf, dass Chocco nicht wach wird. Das hereinscheinende Mondlicht macht es überflüssig, eine Lampe anzuschalten. Leon zieht seine langbeinige Sporthose an, streift das XL-Kapuzenshirt über und schlüpft in seine bunten Sneaker. Fertig! Den MP3-Player lässt er lieber im Zimmer. Zwar wäre es schön, den visuellen Kick mit Musik zu unterlegen, sozusagen ein eigener grooviger Soundtrack wie bei Action-Movies oder Videoclips auf MTV, aber das wäre nicht besonders klug. Da Leon sich nicht erwischen lassen darf - nächtliche Ausflüge sind verboten - muss er sich auf seine Ohren verlassen können!
Leon schleicht zur Zimmertür. Er öffnet sie beinahe lautlos und wirft noch einmal einen prüfenden Blick auf Chocco, der unbeschreiblich niedlich aussieht, wenn er schläft. Das muss Leon ihm unbedingt bald sagen! Er verlässt das Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Leon bleibt stehen und überprüft die Lage. Die Luft ist rein! Niemand ist zu sehen. Vor Leon erstreckt sich der lange dunkle Gang. Eine Taschenlampe! Sobald sich die Gelegenheit ergibt, wird er sich eine zulegen. Bei seinem ersten Streifzug muss er eben ohne zurechtkommen. Wozu hat er gute Augen!
Leon hofft, dass er sich nicht verlaufen wird. Das wäre megapeinlich! Er muss schmunzeln. Bei seiner Orientierungsfähigkeit ist die Wahrscheinlichkeit groß, für drei Tage als verschollen zu gelten, um anschließend wieder aufzutauchen mit der saudoofen Erklärung: Ich habe mich verlaufen! Grins! Andererseits ist das Schloss ein so großer Kasten, dass Leon garantiert nicht der Einzige ist, der sich ab und zu den ein oder anderen Wegweiser wünscht!
Die Zimmer der Internatsschüler liegen allesamt in der ersten Etage. Die Unterkünfte der Lehrer sind im Erdgeschoss. Die Trainer sind im Sportkomplex untergebacht. Einzige Ausnahme ist Adrian Tomlin; sein Zimmer befindet sich ebenfalls im Erdgeschoss. Die Internatsleitung hat diese Regelung getroffen, weil Adrian die meisten Wochenenden im Schloss verbringt und Ansprechpartner für die Schüler ist. Die Lehrer verbringen die freien Wochenenden bei ihren Familien außerhalb. Allerdings muss jeder regelmäßig im Wechsel auch an Wochenenden als Pädagoge Dienst schieben.
Leon schleicht über den Gang. Er ist ziellos und geht erst mal einfach geradeaus, immer der Nase nach! Ein Gefühl von Ungezwungenheit breitet sich in Leon aus. In der Stille der Nacht wirkt das Schloss auf Leon gespenstig und nicht minder romantisch. Schloss Drachenfels wurde im 12. Jahrhundert erbaut und ist ein Meisterwerk der Gotik! Das alte Gemäuer hat eine besondere Aura. Die alten Mauern scheinen lebendig und zu atmen! Leon würde gern wissen, welche Geheimnisse sie hüten. Edgar Allan Poe wäre von Schloss Drachenfels fasziniert und sicherlich auch inspiriert gewesen!
Die Luft im Schloss riecht eigen, leicht muffig. Allerdings auf angenehme Art und Weise! Es ist so, als atmete man Historie mit einem Hauch von Sensation und verblasster Aristokratie. In der Stille der Nacht und in der Dunkelheit offenbaren die langen Gänge einen Charme, der nach Leons Meinung tagsüber nicht wirklich wahrzunehmen ist. Die Hektik lässt das nicht im großen Umfang zu. Hinzu kommt der innere Druck, der durch die innergesellschaftlichen Strukturen im Internatsleben entsteht. Für diese Stressreaktion sind Fieslinge wie Falko verantwortlich. Tagsüber fühlt sich Leon oftmals wie ein Tier in der Savanne, das niemals wirklich weiß, ob es nun Jäger oder Gejagter ist.
Die Sanftheit der Nacht offenbart das Schöne und Erhabene. Leon liebt diese Stunden, das hat er von seiner Großmutter Colette! Die grellen Tage haben was von billig-ordinären Animiermädchen, die mit ihrer Frivolität, der Entblößung jeder körperlichen Öffnung als Pforte zum Gewöhnlichen und der Einfältigkeit des Verstandes der Fantasie jegliche Grundlage entziehen!, pflegt Großmutter Colette aus tiefster Überzeugung zu behaupten. Als Leon noch klein war, hat sie gemeinsam mit ihm viele Stunden im Baumhaus im großelterlichen Garten verbracht und in den Abendhimmel geschaut. Dabei erzählte sie Märchen, am liebsten Peterchens Mondfahrt.
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