Der neunte Buddha - Thriller
jedes Kloster hat Namen.« Wenn der Brite erwartete, dass er in diesem Possenspiel den gerissenen, rätselhaften Orientalen gab, dann wollte er ihm eine virtuose Vorstellung liefern.
Christopher bemerkte die Veränderung in Norbhus Verhalten. Er musste die Taktik ändern.
»Haben Sie diesen Tsewong gesehen, bevor er starb? Ihr Haus liegt an dem Weg, den er gekommen sein muss, wenn er nach Kalimpong wollte. Vielleicht hat er bei Ihnen hereingeschaut. Vielleicht sind Sie ihm begegnet. Sie oder einer Ihrer Angestellten.«
Norbhu Dzasa schüttelte den Kopf.
»Nicht gesehen. Niemand gesehen.« Es wurde still im Raum. Der Tsong-chi sah Christopher durchdringend an. »Was suchen wirklich, Wylam-la? Welche Sache? Welche Person?«
Wieder zögerte Christopher, bevor er antwortete. Wusste der kleine Tibeter Bescheid? Wollte er ihn mit dieser Frage aus der Reserve locken?
»Meinen Sohn«, sagte er. »Ich suche meinen Sohn.«
Der Tsong-chi nahm wieder einen großen Schluck Tee aus seiner Tasse und setzte sie mit einer eleganten Bewegung ab.
»Hier Ihren Sohn nicht finden. Verständnis vielleicht. Weisheit vielleicht. Andere Dinge, die nicht suchen. Aber nicht Sohn. Ich rate Ihnen, Wylam-la, gehen nach Hause. In eigenes Land. Berge hier sehr trügerisch. Sehr hoch. Sehr kalt.«
Die beiden Männer beäugten sich scharf wie Fechter mit erhobenem Florett. In der Stille war die Mantra deutlicher zu hören als zuvor.
»Sagen mir«, ließ Norbhu Dzasa hören, »Wylam häufiger Name?«
Christopher schüttelte den Kopf. Nicht häufig. Nicht, nicht häufig, wollte er sagen. Aber das verkniff er sich.
»Nein. Es gibt nicht viele Wylams. Viele Christophers, aber nicht viele Wylams.«
Norbhu Dzasa lächelte wieder. Etwas an diesem Lächeln störte Christopher. Eine Lampe auf dem Altar flammte kurz auf und erlosch.
»Ich kannte Mann mit Namen Wylam«, sagte der Tsongchi . »Vor vielen Jahren. In Indien. Sah sehr ähnlich. Vielleicht Vater?«
Hatte Norbhu Dzasa das von Anfang an vermutet?, fragte sich Christopher.
»Vielleicht«, sagte er. »Mein Vater war politischer Repräsentant. Er ist schon viele Jahre tot.«
Norbhu Dzasa blickte Christopher unverwandt an.
»Ihr Tee kalt«, sagte er. Christopher nahm seine Tasse und trank rasch aus. Die dicke, lauwarme Flüssigkeit verklebte ihm Mund und Rachen.
»Ich habe Ihnen genug von Ihrer Zeit geraubt, Mr. Dzasa«, sagte er dann. »Es tut mir leid, dass ich Sie vergeblich bemüht habe.«
»Macht nichts«, antwortete der kleine Mann. Er stand auf und klatschte zweimal in die Hände. Dumpf hallte der Ton in dem halbdunklen Raum wider.
Die Tür öffnete sich, und der Diener kam, um Christopher hinauszugeleiten.
»Goodbye, Wylam-la«, sagte Norbhi Dzasa. »Bedaure, dass nicht mehr Hilfe.«
»Das bedaure ich auch«, sagte Christopher. Von dem starken Tee war ihm leicht schwindlig. Er musste aus dieser stickigen Atmosphäre heraus.
Norbhu Dzasa verbeugte sich, und Christopher ging, begleitet von dem Diener. Der Tsong-chi atmete erleichtert auf. Seine Frau und seine Kinder fehlten ihm. Sie waren zum Neujahrsfest Ende Januar und zum dreiwöchigen Mondfest,das darauf folgte, nach Lhasa gereist. Es würde Monate dauern, bis sie zurückkamen. Seine neue Frau war jung und hübsch. In ihrer Gegenwart wurde er selber wieder jung. Aber ohne sie spürte er den Druck des Alters, das auf ihm lag wie eine Schicht harten Schnees, der nicht tauen will. An den Wänden um ihn herum tanzten und liebten sich Götter und Dämonen in feierlichen Abstufungen von Wonne und Schmerz. So wenig Wonne, dachte er bei sich, und so viel Schmerz.
Der Vorhang an der Wand zu seiner Linken teilte sich. Ein Mann in Mönchskleidung trat hervor. Sein schmales, blasses Gesicht war von Pockennarben bedeckt.
»Na?«, fragte Norbhu Dzasa. »Hast du es gehört?«
Der Mönch nickte.
»Wylam«, fuhr Norbhu Dzasa fort. »Sucht nach seinem Sohn.«
»Ja«, antwortete der Mönch. »Ich habe es gehört.« Er fuhr sich mit der schmalen Hand über den glattrasierten Kopf. Die flackernden Lampen schickten Schatten wie laufende Ameisen über seine fleckige Haut.
»Die Götter treten heraus zu ihrem Spiel«, sagte er. »Wir müssen bereit sein, wenn es beginnt.«
10
Als Christopher wieder den Stadtrand von Kalimpong erreichte, versank die Sonne gerade im Westen. Rasch war das Tageslicht dahin. Die Nacht brach über die Welt herein – überraschend und ohne auf Widerstand zu stoßen, wenn man von einigen Lichtpunkten auf dem
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