Der neunte Buddha - Thriller
»Lha-gyal-lo! Lha-gyal-lo!«, riefen die beiden Mönche laut. Das war die erste deutliche Gefühlsäußerung, die Christopher an ihnen bemerkte.
Tsarong Rinpoche trat dicht an Christopher heran und nahm ihn beim Arm. Seine Augen zeigten deutliche Erregung. Der Rest seines Gesichts war hinter dem Schal verborgen.
»Schauen Sie dorthin«, sagte er in scharfem Flüsterton, der sich in der klaren Luft überlaut anhörte.
Christopher tat, wie ihm geheißen. Zunächst konnte er nichts Außergewöhnliches entdecken. Gegenüber lag eine Felswand, die aus einem dichten Vorhang wabernder Nebel hervortrat. Der Dunst schien den ganzen Raum vor ihnen zu füllen. Er wuchs wie eine Mauer zu einer Schicht gefrorener Wolken auf. Eis und Nebel schienen um sie herum eine Wiege zu bilden, in der sie sanft geschaukelt wurden.
»Da ist nichts«, murmelte Christopher. »Nur Steine und Nebel.«
Plötzlich erschallte das Horn wieder, aber diesmal näherals zuvor. Viel näher. Seine tiefen, schwingenden Töne kamen durch den Dunst wie das Heulen eines Nebelhorns auf See. Aber wohin er auch blickte, Christopher sah nur eisbedeckte Felsen, in ziehende Nebel und niedrig hängende Wolken gehüllt.
»Nur Geduld«, flüsterte Tsarong Rinpoche. »Gleich werden Sie es sehen.«
Die beiden Mönche ließen wie wild ihre Gebetsmühlen kreisen, deren leises Surren mit dem Echo des unsichtbaren Instruments verschmolz, das hinter dem Nebel erklang.
Und dann, als hätte das Horn im Himmel ein Wunder bewirkt, hob sich ein Teil des Nebels. Ein goldenes Dach erschien und darunter eine Terrasse, auf der eine orangegekleidete Gestalt bewegungslos vor der sinkenden Sonne stand. Der Mann blies in ein riesiges Instrument, das auf Holzblöcken ruhte. Die schrägen Sonnenstrahlen, die darauf fielen, ließen es wie im Feuer aufflammen. Wieder riss der Klang ab, und wie das Murmeln von Wellen, die an einen Strand mit Kieselsteinen branden, drang von fern der schwache Klang singender Stimmen an ihr Ohr. Die Gestalt auf der Terrasse verbeugte sich und verschwand im Nebel.
Wie gebannt starrte Christopher auf das Schauspiel. Nach und nach löste sich der Nebel auf und gab Stück für Stück die dicht gedrängten Gebäude einer riesigen Klosteranlage frei. Das gewaltige Bauwerk schien zwischen Himmel und Erde zu hängen, wie durch Zauber auf einem Nebelkissen zu schweben, während seine höchsten Spitzen in den Wolken verschwanden.
In der Mitte stand ein mächtiges, rot gestrichenes Gebäude, um das sich zahlreiche kleinere wie Küken um die Henne drängten. Das mehrstöckige Haupthaus hatte ein vergoldetes Dach, dessen Spitzen im Licht der untergehenden Sonne glänzten. Die Fenster waren bereits vor dem Abendwind geschlossenworden. Eiszapfen hingen von allen Firsten wie die Verzierungen einer riesigen Torte.
Nach so vielen Tagen eintöniger weißer Landschaft erfüllte dieser Anblick Christopher geradezu mit Ehrfurcht. Die Farbenpracht blendete ihn. Er hatte ganz vergessen, wie viel Leben Farben ausstrahlen konnten. Wie ein Verhungernder genoss er das goldene Traumbild, das vor ihm lag, bis das schwindende Sonnenlicht ins Violette umschlug und die warmen Töne mit sich nahm. Das Bild versank in der Dunkelheit, und er fragte sich, ob es überhaupt real gewesen war.
»Was ist das?«, flüsterte er, ohne jemanden direkt anzusprechen.
»Unser Ziel«, sagte Tsarong Rinpoche. »Der Pass, den wir gerade überschritten haben, ist der Dorje-la. Das Kloster vor uns ist Dorje-la Gompa. Eigentlich heißt es Sanga Chelling – der Ort geheimer Zauber.«
Christopher blickte wieder auf. In einem Fenster ganz oben unter dem Dach hatte jemand eine Lampe angezündet. Ein Mensch schaute zu ihnen herüber. Sie wurden erwartet.
23
Dorje-la Gompa, Südtibet, Januar 1921
Am Morgen darauf zogen sie im Kloster ein. Sie waren vom Klang des Tempelhorns geweckt worden, das in der Dunkelheit auf der großen Terrasse erdröhnte, um das Licht auf die Erde zu rufen. Und es kam. Es verweilte kurz über den riesigen Gipfeln des östlichen Himalajas, bevor es widerwillig in das dunkle Tal unterhalb des Dorje-la glitt.
Die Klosteranlage war nur über eine lange Holzleiter zu erreichen, die jeden Moment nachzugeben und sie auf diedarunterliegenden Felsen zu schleudern drohte. Ohne jede Gefühlsregung kletterte Christopher hinauf. Furcht, Erwartung oder gar Triumph, dass er diesen Ort erreicht hatte – all das war von ihm abgefallen.
Als sie das Gebäude betraten, war das erste Morgengebet
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