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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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war.
    Ich kehrte zurück an den Schreibtisch, ging die Schubladen darunter durch. Ich fand flüchtig korrigierte Manuskripte von Fachaufsätzen, eine chaotische Zettelsammlung, die schon eher nach wirklicher Wissenschaft aussah und der ich mich normalerweise mit höchster Akribie gewidmet hätte, aber eine Unrast, die über die Sorge um das Wetter hinausging, trieb mich weiter.
    Andere Seite. Oberste Schublade. Meine innere Alarmanlage schrillte in höchsten Tönen, als ich mit spitzen Fingern einen großen weißen Pappkarton herauszog, auf dem Fotos von kleinen Kindern aufgeklebt waren, ordentlich in Reih und Glied, einundzwanzig Stück an der Zahl.
    Es waren ausnahmslos Mädchen, und bis auf zwei, die südamerikanisch wirkten, hatten sie alle asiatische Gesichtszüge. Keines war älter als sieben Jahre.
    Unter jedem Foto stand ein Datum. Es konnte nicht das Geburtsdatum sein, dazu lag es noch nicht lange genug zurück, meist nur ein oder zwei Jahre. Jedes Datum fiel entweder in den November oder den Dezember.
    Und darunter waren Strichlisten …
    Mit einem würgenden Gefühl in der Kehle legte ich den Karton vor mich hin, sah in die Augen der Mädchen, die größtenteils verschreckt in die Kamera geblickt hatten.
    Das also war das Hobby des Professor Bosse Nordin. Ich hatte seine »Sammlung« gefunden.
    Die Welt war in den Händen Satans.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er hier sitzen mochte, ein Glas des teuren Cognacs in der Hand, den ich im Wohnzimmer hatte stehen sehen, die Trophäen seiner perversen Leidenschaft vor sich. Wie er in Erinnerungen an seine Abenteuer in Asien schwelgte, an tropische Nächte, an kleine Körper, gekauft für ein paar Dollar … Und wie es aussah, war seine Frau mit von der Partie. Gaben sie sich gemeinsam fiebriger Vorfreude hin bei dem Gedanken an den nächsten Herbst, die nächste Reise, die nächsten »Spezial-Erlebnis-Rundfahrten« …?
    Mir war plötzlich so übel, dass ich mich zurücklehnen und die Augen schließen musste und abwarten, dass es vorbeiging. Die Welt war in den Händen Satans, ganz genau! Und wer war ich, gegen den Fürsten der Finsternis anzutreten?
    Der Geruch nach Leder, Staub und abgestandener Luft ließ mich auf einmal würgen. Ich schob den Karton mit den Fotos zurück, legte auch alles andere an seinen Platz und machte, dass ich davonkam, hinaus in die kalte Nacht, in der ein Gebirge aus Schnee auf Schweden herabsank.
    Während ich zurück nach Stockholm fuhr, kochte rotglühende Wut in mir hoch, eine solche Woge brennender Energie, dass ich mich nur wunderte, dass die Scheiben nicht von innen beschlugen und die Sitzpolster nicht im Flammen aufgingen.
    Es ist die Kälte draußen, flüsterte eine irre Stimme in mir.
    Draußen herrschte Dunkelheit. Nur im Lichtkegel der Scheinwerfer tanzten dicke, weiße Flocken, maßlos vom Himmel fallend, sich aufhäufend, alles zudeckend. Man sah keine Markierungen mehr, keine Richtungspfeile, nichts. Es war mehr ein Rutschen als ein Fahren, immer wieder kam ich an Autos vorüber, die hilflos blinkend vornüber in Schneewehen steckten. Riesige Räumfahrzeuge donnerten vorbei, hell beleuchtet wie Weihnachtsbäume, und schleuderten den Schnee zu meterhohen Wänden rechts und links der Fahrbahn auf.
    Ich hielt das Lenkrad mit verbissener Energie umklammert, fest entschlossen, nicht klein beizugeben, mich nicht unterkriegen zu lassen, weder vom Wetter noch von all denen, die dachten, die Welt und alles darauf sei ihr persönlicher Besitz. Ich würde dreinschlagen, mit aller Kraft und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich hatte nichts zu verlieren, weiß Gott nicht, ich würde sie alle … töten? Nein, das war viel zu gnädig. Aber ich würde sie drankriegen, alle, die in diese Sache verwickelt waren. Ich würde sie drankriegen, und wenn es das Letzte war, was ich tat in diesem Leben.
    Und während ich so im Schritttempo zurück nach Stockholm schlidderte, durch eine nicht endende Nacht voll tanzender Irrlichter, verdichtete sich all diese blindwütige, heißglühende Energie in mir, fokussierte sich auf einen einzigen Punkt.
    Die Nobelstiftung. Ich würde hineingelangen, und dort würde ich alle Antworten finden, die noch fehlten.
    Diese Woge der Entschlossenheit trug mich auch am nächsten Morgen, steuerte mich wie eine Cruise Missile durch die Vorbereitungen meines Schlages. Es gelang mir trotz aller Wut zu schlafen, sogar auszuschlafen, was schon mal ein guter Anfang war. Ich hatte daran gedacht, mein Mobiltelefon

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