Der Nobelpreis
hierher getrieben? Im Grunde hatte ich nie ernsthaft damit rechnen können, hier irgendeine Spur zu finden. Denn wenn die Stiftung an der Verschwörung beteiligt gewesen wäre, hätte es keinen Grund für Kristinas Entführung gegeben.
Nein. Die Nobelstiftung war genauso ein Opfer jener, die das alles geplant und durchgeführt hatten. Das hätte ich von Anfang an wissen können.
Was also hatte mich hierher gezogen? Mein Instinkt schwieg. Ich stand auf, kehrte zu der Vitrine zurück, in der die Urkunden und die Schatullen mit den Medaillen lagen. Ich stellte die Taschenlampe auf die Oberseite der Vitrine, holte eine der schweren, ledernen Mappen heraus und schlug sie auf. Es war einer der Nobelpreise in Physik, den sich dieses Jahr zwei Wissenschaftler teilten, einer aus den USA und einer aus Japan. Dies war die für den Japaner bestimmte Urkunde, groß, von einem Kalligraphen farbenprächtig gestaltet, mit dem Nobelsiegel und zwei Unterschriften versehen. Noch drei Tage, bis er diese Mappe aus der Hand des Königs entgegennehmen würde.
Ich legte sie zurück und öffnete eine der großen, dunkelroten Schatullen. Die goldene Medaille darin zeigte Alfred Nobel im Profil sowie sein Geburts-und sein Sterbejahr in römischen Zahlen. Das war er also, der Heilige Gral der Wissenschaften. Kein Stäubchen und kein Fingerabdruck verunzierte das blank polierte Bild.
Ich nahm die Medaille heraus, was mit Handschuhen nicht gerade einfach ist, und drehte sie um. Die Rückseite zeigte eine Frauengestalt mit einem Buch auf dem Schoß, die in einer Schale Wasser aus einer Quelle sammelte, wohl um den Durst eines kranken Mädchens zu stillen, das sie im anderen Arm hielt. Die Inschrift entlang des Randes lautete Inventas vitam juvat excoluisse per artes. Latein gehört nicht zu den Sprachen, die man in meinem Beruf braucht, aber Hans-Olof hatte nicht versäumt, mir zu erklären, dass das ein Zitat aus der Aeneis Vergils ist, das wörtlich übersetzt heißt: »Erfindungen verbessern das Leben, das durch die Künste verschönert wird.«
Auf einer kleinen flachen Stelle am unteren Rand war ein Name eingraviert. Ich drehte die schwere, große Scheibe aus nahezu reinem Gold im Licht der Taschenlampe, um ihn entziffern zu können, und hätte sie beinahe vor Überraschung fallen lassen, als ich den Namen Sofía Hernández Cruz las. Ich hielt die Medaille in der Hand, die für sie bestimmt war!
Was für ein Zufall. Ich starrte die kleinen Buchstaben an, die fast nicht genug Platz hatten, und konnte es kaum glauben, obwohl der Zufall so groß nun auch wieder nicht war.
Ein Gedanke kam mir. Was, wenn ich die Medaille stahl? Was würde geschehen?
Nichts. Wahrscheinlich lagen Medaillen in Reserve, und ein Name war schnell eingraviert. Selbst wenn nicht, würde man ihr die Medaille einfach später zukommen lassen – so, wie man es bei der ersten Preisverleihung 1901 gemacht hatte, weil die Medaillen damals nicht rechtzeitig fertig geworden waren. Ich legte die schwere Goldscheibe zurück an ihren Platz und stellte die Schatulle weg.
Nein, das war es auch nicht, was mich hierher gelockt hatte.
Einem Impuls folgend, öffnete ich die Tür, die vom Büro des Stiftungsvorsitzenden in den daneben liegenden Konferenzraum führte. Von der Innenseite war dazu nur eine Verriegelung zu lösen. Ich trat hindurch und machte Licht. Möglich, dass mich jetzt jemand von draußen sah und sich wunderte, aber das war mir egal. Ich musste ihn mir noch einmal genau anschauen, diesen Alfred Nobel, dessen Vermächtnis Anlass für all dies hier war.
In diesem Raum war er allgegenwärtig. Ein Porträt hing neben der Tür zum Flur, ein weiteres, größeres über dem Kamin. Alles, was ich jemals über diesen Mann gehört hatte, kam mir wieder in den Sinn – und wenn man ein Mitglied eines Nobelkomitees zum Schwager hat, bleibt es nicht aus, dass man eine Menge über Alfred Nobel hört. In dieser Nacht und an diesem Ort schien es auf einmal eine Geschichte von mythischer Wucht zu sein, eine Sage, wie sie die alten Griechen nicht merkwürdiger hätten erfinden können.
Ausgerechnet mit Sprengstoff hatte er sein immenses Vermögen gemacht! Nobel hatte nach Experimenten mit Nitroglycerin, bei denen sein jüngerer Bruder ums Leben gekommen war, schließlich das Dynamit erfunden, den ersten sicher zu handhabenden Sprengstoff, ohne den die großen Bauvorhaben seiner Zeit nicht möglich gewesen wären. Er hatte an Tunnelbohrungen verdient, am Bau von Überlandstraßen
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