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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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und Eisenbahnlinien, für die Felsen und Bergrücken zu durchbrechen waren – aber natürlich auch an Kriegen und an der Produktion von Waffen. Er war ein Erfinder gewesen und ein cleverer Geschäftsmann, doch er hatte sein Leben einsam verbracht, hatte nie geheiratet, keine Familie gegründet, keine Kinder gezeugt, und einsam war er auch gestorben. Am 10. Dezember 1896, jenem Tag, der heute Nobeltag heißt. Etwa ein Jahr zuvor hatte er das letzte, entscheidende Testament aufgesetzt, in dem er seine Verwandtschaft quasi enterbte und stattdessen jenen Preis begründete, der heute unauslöschlich mit seinem Namen verknüpft ist.
    Der Konferenztisch in der Mitte schimmerte rötlich. Ich versuchte, mir vorzustellen, was für Gespräche hier stattgefunden haben mochten. Wann war an diesem Tisch der Name Sofía Hernández Cruz das erste Mal erwähnt worden? Die Nobelstiftung organisierte nur die Verleihungszeremonie und stellte das Geld für die Prämien zur Verfügung; mit der Wahl der Preisträger selbst hatte sie nichts zu tun. Wahrscheinlich war dieser Name erst nach der Wahl gefallen und ohne dass jemand ahnte, dass skrupellose Geschäftemacher dabei ihre Finger im Spiel gehabt hatten.
    Noch zwei weitere Porträts hingen über einer Glasvitrine, in der einige Gerätschaften Nobels und ein Faksimile seines Testaments ausgestellt waren. Das eine zeigte Bertha von Suttner, eine österreichische Friedensaktivistin, mit der er jahrzehntelang in Briefkontakt gestanden hatte und ohne deren Einfluss ihm der Gedanke, einen Preis für den Frieden zu stiften, vielleicht gar nicht gekommen wäre. Das andere stellte Ragnar Sohlman dar, den von Nobel bestimmten Testamentsvollstrecker, dem die Institution Nobelpreis ihre Existenz nicht weniger verdankt als dem Vermächtnis des Stifters selbst. Sohlman war es gewesen, der die Verwandten Nobels davon abbrachte, dessen Testament anzufechten – was sie mit einiger Aussicht auf Erfolg hätten tun können, denn sie hatten die Rechtslage auf ihrer Seite gehabt.
    Hier stand ich also, sozusagen im Angesicht dreier Menschen mit hohen Idealen, und wusste nicht mehr weiter. Beseelt von dem Wunsch, ihren Mitmenschen zu helfen, hatten sie sich dafür eingesetzt, die Welt zu verbessern, sie zu einem lebenswerteren Ort zu machen. Das Wohl der anderen hatte für sie so viel gezählt wie ihr eigenes.
    Doch wie hatte man es ihnen gedankt? Ich ging vor der Vitrine in die Knie, las das Testament in der Handschrift Nobels. Das Kapital soll einen Fonds bilden, dessen jährliche Zinsen als Preise denen zuerteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben. Ich überflog die Zeilen, in denen die Kategorien festgelegt wurden – Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Frieden. Der Abschnitt endete mit jenem Satz, der zu Nobels Zeit ungeheuerlich gewesen war: Es ist mein ausdrücklicher Wille, dass bei der Preisverleihung keine Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu irgendeiner Nation genommen wird, sodass der Würdigste den Preis erhält, ob er nun Skandinavier ist oder nicht.
    Einen Vaterlandsverräter hatte man Nobel dafür geschimpft.
    Ich spürte ein Beben in mir, ein Zittern, das aus namenlosen Tiefen in mir aufstieg, und es gab nichts, das es dort unten hätte halten können. Ich musste mich setzen, ließ mich einfach auf den Boden sinken. Was war das, um Himmels willen, was war das?
    Tränen. Ich hörte mich auf einmal schluchzen und begriff erst nicht, dass ich das selber war. Mein Blickfeld verschwamm, feucht lief es über meine Wangen, und ein uralter Schmerz schien mir das Herz zu zerreißen. Ich weinte um meine Eltern, die ich nie gekannt hatte. Ich weinte um Inga, die mich so plötzlich und viel zu früh verlassen hatte. Ich weinte um Kristina, die nichts mehr von mir hatte wissen wollen. Ich weinte um mich selbst, und ich weinte um Alfred Nobel, den Mann, der sein Leben lang traurig und einsam gewesen war und schließlich all das, was er niemandem hatte geben dürfen, der Menschheit insgesamt dargebracht hatte in einem der großartigsten Vermächtnisse aller Zeiten.
    Einer Menschheit, die es ihm schlecht dankte. Einer verdorbenen, rücksichtslosen, gewalttätigen Bande von Zweifüßern, die vor nichts zurückschreckten, auch nicht davor, Nobels Andenken in den Dreck zu trampeln, wenn es nur ihren Zwecken diente.
    Die positiven Kräfte hatten tapfer gekämpft, doch sie waren zu schwach gewesen. Das Böse hatte gesiegt. Die Welt war in den Händen

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