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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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weiß.«
    »Ja, tu das.« Damit unterbrach er die Verbindung.
    Der Kaffee hatte inzwischen Trinktemperatur erlangt, schmeckte aber immer noch nicht gut. Während ich die alten Knäckebrote kaute, las ich den Bericht über den Vortrag der künftigen Nobelpreisträgerin in Medizin.
    Immerhin war interessant, einmal ihre ganze Geschichte zu erfahren. Die Sex-Experimente in Alicante waren gar nicht so entscheidend gewesen, nur aufsehenerregend. Forschungen über die Wirkungsmechanismen von Narkosemitteln hatten in der Tat am Anfang gestanden, doch relativ bald schon hatte Sofía Hernández Cruz angefangen, sich ihre berühmte Frage zu stellen: Was ist das eigentlich, was all die verschiedenartigen Mittel dämpfen, regulieren, ausschalten – was ist diese Wachheit?
    Zunächst ist Wachheit nicht dasselbe wie Bewusstsein. Denn wir träumen, und dabei sind wir nicht wach, aber wir sind sehr wohl bei Bewusstsein, wenngleich in einem anderen Zustand desselben. Doch auch wenn wir wach sind, sind wir es in unterschiedlichem Maße.
    Schmerzen machen uns weniger wach, hatte sie in ihrem Vortrag gesagt. Sexuelle Erregung macht uns weniger wach. Selbst Erinnerungen machen uns weniger wach. Alles, was unser Gehirn dazu zwingt, Impulse aus unserem eigenen Inneren zu verarbeiten, vermindert den Grad unserer Wachheit.
    Ich schaute angewidert auf das Gebräu in der Tasse, das mich wach machen sollte. Die Milch schien doch auszuflocken. Ich stand auf und schüttete alles weg. Müdigkeit. Sie hatte Müdigkeit vergessen, die kluge Frau. Was den Grad unserer Wachheit vor allem anderen verminderte, war schlicht und einfach Müdigkeit.
    In Basel (man stelle sich vor: in Basel!) hatte sie indische Yogis vor ihre Tomografen gesetzt, hatte die Vorgänge in ihren Gehirnen fotografiert, während sich jene bei vollem Bewusstsein lange Nadeln durch Zungen, Backen, Oberarme und andere Körperteile stachen. Diese Muster hatte sie mit den Mustern in den Gehirnen normaler Menschen verglichen, solchen in den vier verschiedenen Stadien der Narkose nach Guedel – die, wie dem geneigten Leser erklärt wurde, Analgesie, Excitation, Toleranz und Asphyxie genannt werden –, aber auch hellwachen, aufgeregten, gelangweilten, schläfrigen, Karten spielenden, grübelnden, sich amüsierenden Menschen und so weiter, darunter eben auch jene Versuchspersonen, die durch unvermittelte Einblicke in sexuelle Erregung versetzt worden waren. Das hatte sie zu allerhand Schlussfolgerungen über die Natur von Wachheit und ihrer Beziehung zum Phänomen des Bewusstseins geführt, die der Verfasser des Artikels übersprang, um mit einem Zitat zu schließen, das für ihn wohl die Quintessenz des Ganzen darstellte: Wahrhaft wach sind wir in dem Moment, in dem unser Geist still und unbewegt ist und imstande, die Welt um uns herum ohne selbstgeschaffene Verzerrungen abzubilden. Das uralte Zen-Wort vom Geist, der wie ein Spiegel sein soll, findet auf der neuronalen Ebene eine verblüffend genaue Entsprechung.
    Na toll, dachte ich. Ich legte die Zeitung weg. Dann starrte ich träge in den trüben Morgen hinaus und grübelte darüber nach, was ich noch in den voraussichtlich letzten zweieinhalb Tagen meines Lebens unternehmen sollte. Ich kam zu keinem vernünftigen Schluss und merkte nicht, wie derweil die Zeit verrann.
    Bis ich plötzlich hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gerammt und mit einer harten, zornigen Bewegung umgedreht wurde.
    Birgitta!
    Meine Reaktion hätte Frau Professor Hernández Cruz zweifellos interessiert: Mit einem Schlag war ich hellwach.
     
    Birgitta war geladen. Man hörte es aus ihren Schritten im Flur, und man sah es in ihrem Gesicht, als sie die Küche betrat. Ich konnte nur nicht ganz nachvollziehen, warum sie mich so hart, so entschlossen, so bitter ansah.
    »Hallo«, sagte ich in möglichst ruhigem Ton. »Schule schon aus?«
    »Nein«, erwiderte sie. »Nur eine Freistunde.« Sie wuchtete die Ledertasche auf den Tisch, die sie dabeihatte und die schwer zu sein schien, jedenfalls verursachte sie ein schweres, dumpfes Geräusch. Ein Geräusch wie ein niedergehendes Fallbeil. »Gunnar, ich bin vorbeigekommen, um etwas zu regeln.«
    Ich sah sie an. Ich war hellwach. Frau Professor Hernández Cruz wäre begeistert gewesen. »Etwas, was mich betrifft, nehme ich an?«
    »Ja.« Birgitta schob die Schultern nach vorne, sah mir in die Augen. »Ich möchte nicht mehr, dass du hier wohnst. Bitte pack deine Sachen und geh.«
    Ich war, gelinde gesagt, konsterniert.

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