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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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wollen Sie denn von mir?«
    »Das habe ich Ihnen schon gesagt: das Mädchen.«
    Ich sah Panik in seinen Augen. »Welches Mädchen denn?«
    »Das, das hier gefangen gehalten wird.« Ich verstärkte den Druck der Pistolenmündung. »Und wehe, Sie schreien.«
    Kohlström schluckte. »Sie müssen sich irren. Dies ist ein Waisenhaus. Hier werden keine Mädchen gefangen gehalten.«
    Er wirkte sehr überzeugend. Sein Pech war, dass ich nicht die Absicht hatte, mich überzeugen zu lassen. »Wir gehen jetzt rüber zum Haupthaus und dort in den Keller«, befahl ich. »Wer ist noch auf dem Gelände? Köchinnen? Sonst jemand?«
    »Niemand«, beeilte er sich zu versichern. »Die Kinder sind in der Schule, die Köchin ist einkaufen gefahren …«
    »Was ist mit den Kindern, die noch nicht zur Schule gehen?«
    Er wackelte mit dem Kopf. »Haben wir nicht mehr.«
    »Umso besser.« Ich packte ihn am Kragen seines fadenscheinigen Mantels und stieß ihn in Richtung Haupthaus. Er leistete keinen Widerstand, schloss mit zitternden Händen auf, tat alles, was ich sagte.
    Mein erstes Ziel war der Kellerraum, in dem ich ungezählte Stunden hatte verbringen müssen, auf einer schimmligen Matratze im Dunkeln, ohne Licht. Diesen Raum gab es noch, aber es war kein Verlies mehr, sondern ein weiß und hellgrün getünchter Tischtennisraum.
    Na schön. Es gab noch jede Menge anderer Verstecke in diesem Haus, und ich klapperte sie alle ab, Rune Kohlström vor mir herdirigierend: das Kabuff hinter dem Heizungskeller, den Verschlag unter der Treppe, das fensterlose Gelass beim Kamin im Dachgeschoss, das man nur durch eine Klappe erreichte. Und die normalen Zimmer und Räume durchsuchte ich natürlich auch alle. Immerhin, der Standard hatte sich verbessert: Aus den alten, straflagerartigen Sechsbettzimmern waren gemütlich eingerichtete Jugendzimmer für je zwei Personen geworden, und unser ehemaliges Schulzimmer war heute ein Fernsehraum mit allem, was moderne Unterhaltungselektronik zu bieten hatte.
    Doch von Kristina keine Spur.
    »Wer sind Sie?«, fragte Kohlström bebend. Wir standen am oberen Absatz der Treppe zum Dachgeschoss, und durch ein neu eingebautes Dachfenster schien die perlmuttfarbene Wintersonne herein. »Woher kennen Sie sich hier so gut aus? Waren Sie schon einmal hier?«
    Ich winkte mit der Pistole. »Ihr eigenes Haus ist dran. Gehen wir.«
    Er schien nichts zu hören, sah mich nur mit flackernden Augen an, die immer größer wurden. Sein Mund öffnete sich, schloss sich und öffnete sich wieder, und dann flüsterte er: »Gunnar …?«
    Verflucht, das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich trat einen Schritt zurück, ins Halbdunkel. »Die Treppe runter!«, befahl ich. »Los!«
    »Du bist Gunnar … Gunnar Forsberg«, hauchte Kohlström mit einem eigenartigen Klang in der Stimme, von dem ich erst nicht begriff, dass es Rührung war – und Erleichterung. »Du lebst? O mein Gott, du lebst noch …«
    Er hob die Hände, als wolle er mich umarmen. Ich riss die Pistole hoch und hielt sie ihm vor das Gesicht, was ihn stoppte.
    »All die Jahre dachte ich, du seist tot, du und deine Schwester«, stieß er hervor. »Wochenlang haben wir nach euch gesucht. Ach was, Monate! Es ging durch alle Zeitungen, übers Fernsehen, und keine Spur, keine. Ihr wart wie vom Erdboden verschluckt.« Er ließ die Arme wieder sinken. »Inga. Wie geht es ihr?«
    »Inga ist tot«, sagte ich.
    Bestürzung in seinem Gesicht. »Tot? Wie das?«
    »Ein Autounfall vor fünf Jahren, den ihr Ehemann verschuldet hat.«
    »Ihr Ehemann? Sie war also verheiratet?«
    »Ja.«
    »Hatte womöglich Kinder?«
    »Eine Tochter«, stieß ich widerwillig und zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich hätte ihm nichts sagen müssen, nicht das Geringste, aber ich konnte nicht anders.
    »Sie ist das Mädchen, das ich suche.«
     
    Ich durchkämmte auch noch Kohlströms Haus und seine Garage und fand nichts. Dann bekam Kohlström einen Schwächeanfall und musste sich setzen. So saßen wir an dem weiß lackierten Esstisch in seiner kargen, weiß gestrichenen Küche, und ich sah ihm zu, wie er ein Glas Wasser trank, kurzatmig und mit zitternden Händen. Dann wollte er wieder wissen, wieso uns die Suchtrupps seinerzeit nicht hatten finden können.
    Also erzählte ich es ihm. Warum auch nicht. Ich hatte meine letzte Spur verloren, die wahrscheinlich nie eine Spur gewesen war, sondern bloß eine Wahnvorstellung. Ich hatte sogar alle Lust verloren, diesen erbärmlichen Mann zu töten. Ich

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