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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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windschief, verwittert, und der Garten zur Straße hin, genauso verwahrlost wie früher auch. Das Fenster zum Schlafzimmer, unter dem ich Rune Kohlströms Affäre mit einer der Gesellschaftsdamen so lange belauscht hatte, bis ich die einschlägige Geräuschkulisse täuschend echt wiederzugeben imstande war. Ich sah zum Hauptbau hinüber, suchte das Fenster, hinter dem mein Bett gestanden hatte. Das dritte von rechts. Die Jungs hatten im Erdgeschoss geschlafen, die Mädchen unter dem Dach. Ich konnte die anderen noch sehen, wie sie hinausspähten, während ich unter dem offenem Fenster saß und wartete, bis sie mir das Zeichen gaben, dass Kohlström mit seiner Geliebten heraus auf den Hof kam …
    Was wohl aus ihnen geworden war?
    Ich ging ein paar Schritte weiter, sah mich um. Es war still. Montag neun Uhr morgens hätte eigentlich Schule sein müssen, aber die Fenster waren dunkel. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass die Zeiten, als Schüler aller Altersstufen gemeinsam in einem einzigen Klassenzimmer unterrichtet wurden, auch hier längst vorbei sein mussten. Wahrscheinlich kam morgens ein Bus, der die schulpflichtigen Kinder zu einer Schule im nächstgrößeren Ort brachte.
    Umso besser.
    Auf dem Klingelschild stand unverändert Rune Kohlström, Waisenhaus Kråksberga, in ungelenken Buchstaben, von Hand geschrieben und im Lauf der Jahre verblasst. Ich klingelte.
    Nichts rührte sich. Auch nicht, als ich es noch einmal versuchte.
    Ich musste an die Brechstange denken, die ich nicht dabeihatte, und taxierte den Zustand der Haustür. Auf keinen Fall würde ich mich heute damit abgeben, Schlösser aufzufieseln. Hier und jetzt war rohe Gewalt das Mittel der Wahl. Zweifellos war die Tür durch einen kräftigen Stiefeltritt aufzusprengen, doch so etwas ist laut und auffällig und in ungünstigen Situationen so gut wie ein ausgelöster Alarm.
    Vielleicht fand sich hinten in den Ställen ein geeignetes Werkzeug. Ich trat von der Tür weg, ging um das Haus herum. Da, die alte Garage, immer noch durch eine Kette und ein Vorhängeschloss gesichert, das selbst ein Zehnjähriger mit einem Stück Draht aufbekam. Doch die Ställe, in denen wir früher Ponys, Ziegen, Hühner, Kaninchen und so weiter gehabt hatten, waren nicht mehr da. An ihrer Stelle befand sich ein Unterstand voller Fahrräder und eine Art Spielplatz, soweit das unter dem Schnee auszumachen war.
    Und hier war jemand. Ein gebückt gehender, weißhaariger Mann kam mir entgegen. Er trug einen dünnen, braunen Mantel.
    » God dag « , knurrte er. »Sie wünschen?«
    »Ich suche Rune Kohlström«, sagte ich.
    »Den haben Sie vor sich.«
    Ich stutzte. Das sollte Rune Kohlström sein? Ein schmächtiges bebrilltes Männchen, das mir gerade bis zum Kinn reichte? Ich musterte ihn genauer: Ja, er war es, ohne Zweifel. Ich hätte das Gesicht jederzeit wiedererkannt – nur hatte ich es nicht auf einem so kleinen Körper erwartet.
    Natürlich. Ich war gewachsen. Nicht nur das Heim, auch sein Leiter hatten dem kleinen Gunnar Forsberg wesentlich größer vorkommen müssen, als sie mir heute erschienen. Der Riese von damals war in Wirklichkeit ein Zwerg gewesen. Nicht zu fassen.
    Die Abteilung meines Geistes, die sich mit dem Produzieren von Ausreden und Vorwänden befasste, wartete nicht, bis ich mich gefangen hatte. »Ich komme von Rütlipharm«, hörte ich mich sagen. »Von Herrn Hungerbühl.«
    »Ah ja?« Ein erfreutes Lächeln huschte über sein Gesicht.
    »Geht es mit den Forschungsarbeiten weiter?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Ich komme wegen des Mädchens.«
    Kohlström runzelte die Stirn. »Was für ein Mädchen?«
    »Das Mädchen, das seit Anfang Oktober bei Ihnen untergebracht ist. Man hat mir gesagt, Sie wüssten Bescheid.«
    »Bei mir sind eine Menge Mädchen untergebracht. Aber seit Anfang Oktober …?« Er musterte mich aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Seine Augen hatten sich nicht verändert. Eine Gänsehaut kroch mir den Rücken hoch. »Sagen Sie,« fragte er, »wer sind Sie überhaupt?«
    Okay, das reichte jetzt auch mit dem schleimscheißerischen Versteckspiel. Ich zog die Pistole, trat einen Schritt auf ihn zu und drückte ihm den Lauf in die Kehle, in einer einzigen sekundenschnellen Bewegung. »Liefern Sie mir nur den geringsten Anlass, Sie abzuknallen, dann werde ich es tun«, zischte ich. »Ich bin gerade in genau der richtigen Stimmung dafür.«
    Der alte Heimleiter schnappte nach Luft. »Um Himmels willen. Was

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