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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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erzählte ihm in Kurzfassung von unserer Flucht, wobei ich alles wegließ, was meine Einbrecherei betraf, und Kristinas Entführung natürlich mit keinem Wort erwähnte.
    Und seltsam, erst da ging mir auf, wie sorgsam und von langer Hand Inga unsere Flucht vorbereitet haben musste. Mir fiel wieder ein, wie zielstrebig sie uns geführt und dass sie eine Landkarte gehabt hatte. Hatte sie von der Feriensiedlung am Storuttern-See gewusst und auch, dass um diese Jahreszeit niemand mehr dort sein würde? Sie hatte für Proviant gesorgt, was bei den Verhältnissen im Heim eine Glanzleistung für sich war, und ihn auf unserer langen Wanderung durch die Wälder sorgsam eingeteilt. Sie hatte darauf bestanden, Ansiedlungen und Begegnungen mit Menschen aus dem Weg zu gehen, und der Versuchung widerstanden, ein Stück mit dem Bus zu fahren: Ihr musste klar gewesen sein, dass man mit unseren Fotos in der Hand alle Busfahrer der Gegend befragen würde.
    »Aber warum?«, fragte Kohlström. »Warum habt ihr das alles auf euch genommen, um Himmels willen?«
    Ich sah ihn an, dieses kleine, verhutzelte Überbleibsel jenes Riesen, der einst den Abfalleimer vor mir auf den Boden geleert, mir einen Löffel in die Hand gedrückt und » Iss! « gebrüllt hatte. Und ich sah eine Bohlentür, hinten im Stall, sah den dicken Ole davor Wache stehen, breit grinsend, hörte die Schreie. »Manche von den größeren Jungs haben regelmäßig Mädchen vergewaltigt«, sagte ich. »Und Sie haben das einfach ignoriert.«
    »Ach so«, meinte er. »Das …« Er sank auf seinem Stuhl noch weiter in sich zusammen, fing an, Krümel mit dem Finger auf der Tischplatte umherzuschieben. »Ich bin nie damit zurechtgekommen, mit dieser Aggressivität, die manche Jungs an den Tag legen. Schon als Kind nicht. Ich bin oft von Älteren verprügelt worden, glaub mir, schrecklich oft. Und später dachte ich immer, es liegt an der Erziehung. Aber was ich auch probiert habe …« Er seufzte. »Vor kurzem hat man entdeckt, dass es eine Krankheit ist. Erziehungsmaßnahmen nützen überhaupt nichts, man muss das medikamentös behandeln. Ein Schweizer Forschungsinstitut führt seit ein paar Monaten Untersuchungen bei uns durch. Noch ist alles in einem frühen Stadium, aber wenn es funktionieren sollte, wird Kråksberga ohne Zweifel in die Geschichte eingehen, zu einem Begriff werden, so wie Summerhill oder Montessori. Ich werde freilich nichts mehr davon haben, ich gehe nächstes Jahr in den Ruhestand …«
    Ich hob nur die Augenbrauen. Es wunderte mich nicht, dass er das Juvenile Aggressions-Syndrom für bare Münze nahm. Für Leute wie ihn war diese Krankheit erfunden worden.
    »So sieht die Bilanz aus: Mein ganzes Leben war ein Fehler«, erklärte er mit trübsinniger Asche-auf-mein-Haupt-Stimme.
    »Ich muss es zugeben. Ich bin ungeeignet, mit Kindern umzugehen, war es immer. Ich habe als junger Mann den entsetzlichen Fehler gemacht, ein Buch über Erziehung zu schreiben, ein eingebildetes Buch voller Dummheiten. Und als die Mitglieder des Vereins, der dieses Waisenhaus gegründet hat, mir seine Leitung angetragen haben, weil sie von meinem Buch so begeistert waren, habe ich nicht abgelehnt, und das war mein zweiter Fehler. Ich dachte, ich würde aller Welt zeigen können, wie man es richtig macht. Wirklich, das dachte ich. Gott, ich war so jung! Ich hatte vom richtigen Leben überhaupt noch nichts gesehen! Und auf einmal saß ich hier in der Einöde, mit hundert Kindern, die mir jeden Tag aufs Neue bewiesen haben, dass ich keine Ahnung hatte …«
    Ein Telefon klingelte, und es musste noch zweimal klingeln, ehe ich begriff, dass es das in meiner Tasche war. War ich wirklich so unvorsichtig gewesen, es angeschaltet zu lassen? Offensichtlich. Ich zog es heraus und meldete mich.
    Es war Dimitri. »Sitzt du?«, wollte er wissen.
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich habe Kristinas Telefon gefunden. Du wirst es nicht glauben: Es ist noch in Betrieb. Alle paar Tage wird es eingeschaltet, nur für ein, zwei Minuten. Zuletzt gestern Abend um 17 Uhr 13.«
    Ich sprang auf. »Und wo? Wo befindet es sich?«
    »Nicht am Telefon«, erwiderte Dimitri. »Komm einfach.«
    Im nächsten Moment hatte er aufgelegt.

KAPITEL 47
    Dimitri und seine verfluchte Paranoia! Ich tippte fluchend seine Nummer ein, aber er nahm nicht mehr ab, so lange ich es auch klingeln ließ.
    Kohlström war vergessen. Ich stand einfach auf und ging, und noch im Gehen rief ich Hans-Olof an. »Wo steckst du? Kannst du reden? Ich

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