Der Nobelpreis
Gänge. »Hier entlang, da vorne rechts, und dann sind es nur noch ein paar Schritte.«
»Wunderbar.« Ich nickte dankend und eilte los, verfiel, als ich außer Sicht war, in lockeren Schlenderschritt, fand die Tür zum Treppenhaus und machte mich an den Aufstieg in den sechsten Stock. Es war eine Menge los, eine Menge Frauen kamen ständig aus den Aufzügen, es herrschte ein Kommen und Gehen – der Wachmann würde, wenn er mich nicht wiedersah, davon ausgehen, dass ich meine imaginäre Begleiterin getroffen und mit ihr das Haus verlassen hatte.
Ich war überzeugt, dass Birgitta mit ihrer Einschätzung Recht gehabt hatte und Sofía Hernández Cruz tatsächlich nicht ahnte, wie sie zu ihrem Nobelpreis gekommen war. Doch das war in meinen Augen kein Grund, sie ungeschoren davonkommen zu lassen. Sie lebte in einer Illusion, die zweifellos angenehm war, aber heute Nacht enden würde.
Es war kurz nach elf Uhr, als sie zurückkehrte. Bei geöffneter Tür wechselte sie noch ein paar Worte mit jemandem auf dem Flur, doch als die Tür zufiel, war sie allein.
Sie zuckte nicht einmal zusammen, als im nächsten Moment ein Mann auf sie zutrat, der eine Waffe in der Hand hielt. Sie blieb nur stehen und hob die Augenbrauen.
»Wer sind Sie?«, fragte sie. »Und was wollen Sie hier?«
»Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte ich.
Hans-Olof starrte mich an, kreidebleich, das Gesicht ein Bild des Entsetzens, das ein Künstler ohne Zweifel festhaltenswert gefunden hätte.
»Bist du wahnsinnig?«, krächzte er.
»Ja«, sagte ich. »Ich war vollkommen wahnsinnig.«
Auf dem Fernsehschirm war die Zeremonie der Preisverleihung in vollem Gang. Getragene Musik, ein Redner in elegantem Frack am Pult, Trompetengeschmetter. Ein Mann, der seine Medaille und sein Diplom aus der Hand des Königs entgegennahm, sich verneigte und zu seinem Platz zurückging. Applaus, der im Saal aufbrandete, bis das Orchester erneut zu spielen begann.
Ich lehnte mich zurück, hakte meinen rechten Arm hinter das Rückenpolster des Sofas. »Ich wollte ihr den Preis verleiden. Und außerdem«, sagte ich, »war sie meine letzte Hoffnung.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte Sofía Hernández Cruz, als ich fertig war.
»Weil, falls Kristina noch lebt«, erwiderte ich, »Sie die Einzige sind, die noch eine Chance hat, sie zu retten.«
»Ah ja? Und wie sollte ich das Ihrer Meinung nach tun?«
»Indem Sie Öffentlichkeit herstellen.« Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich beim Erzählen die Pistole hatte sinken lassen. Ich steckte sie weg. Was immer noch geschehen mochte, ich würde sie nicht mehr brauchen. »Die Nobelfeier wird live übertragen. Die Kameras der Weltpresse und Millionen Augen werden auf Sie gerichtet sein. Wenn Sie den Preis in letzter Sekunde ablehnen … Wenn Sie ans Mikrofon gehen und erklären, warum – das wird niemand totschweigen können. Damit würden Sie die Mauer des Schweigens durchbrechen, die die Verschwörung errichtet hat.«
Sie sah mich eisig an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Sie erwarten von mir im Ernst, dass ich Ihnen so eine Geschichte einfach glaube? Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da verlangen?«
»Ja.«
»Nein. Ich denke nicht, dass Ihnen das wirklich klar ist.«
»Ich verlange von Ihnen, auf zehn Millionen Kronen und eine Medaille aus achtzehnkarätigem Gold zu verzichten zugunsten des Lebens eines vierzehnjährigen Mädchens, das Sie überhaupt nicht kennen.«
Sie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ach was. Es geht doch nicht um Geld.«
»Sondern? Um Ihren Ruhm?«
Sofía Hernández Cruz lachte spöttisch auf. »Meinen Ruhm? Eine Woche nach der Preisverleihung hat die Öffentlichkeit die Namen der Nobelpreisträger doch schon wieder vergessen. Mir wird das nicht anders gehen. Wenn ich auf Ruhm aus wäre, gerade dann sollte ich tun, was Sie vorschlagen – damit würde ich wahrscheinlich regelrecht unsterblich.«
»Umso besser. Was hindert Sie dann?«
Sie schwieg einen Moment. »Herr Forsberg«, sagte sie dann, »ich bin Wissenschaftlerin. Wissenschaftler werden weder von der Aussicht auf Geld motiviert noch von der Aussicht auf diese billige Art von Berühmtheit. Was sie antreibt, ist vor allem anderen der Wunsch, zu wissen. Nach dem, was Sie mir über Ihre, ähm, berufliche Tätigkeit erzählt haben, denke ich, dass das etwas ist, was Sie nachvollziehen können. Das zweite Motiv verstehen Sie dagegen offenbar nicht richtig: Anerkennung. Wissenschaftler wollen
Weitere Kostenlose Bücher