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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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erweitert sich mit der Größe des jeweils aktiven Neuronenmusters, denn es gibt kein Bewusstsein an sich, es gibt nur Bewusstseins inhalte . Wenn wir uns mit einer Vorstellung identifizieren, die nur von einer geringen Anzahl von Neuronen dargestellt wird, haben wir auch eine verengte, vereinfachte, gewissermaßen eine falschere Sicht auf die Welt. Allerdings muss das nicht so bleiben, denn diese Neuronenmuster werden nie unverändert aktiviert; vielmehr wandeln sie sich ständig. Ein Moment der Erkenntnis, das habe ich zeigen können, ist immer damit verbunden, dass sich mehrere Muster kommunizierender Neuronen, die vorher unabhängig voneinander waren, zu einem einzigen, größeren Muster verbinden. Das passiert im kleinen Maßstab Hunderte Male am Tag, aber manchmal passiert es auch in großem Maßstab: Das sind dann Momente, in denen sich buchstäblich unser Leben verändern kann.« Sie machte eine kurze Pause. »Mit einfachen Worten gesagt, der einzige Weg, auf dem wir uns der Wahrheit nähern können, ist der, die Zahl unserer Illusionen zu verringern.«
    Ich wartete, aber es kam nichts mehr. Sie saß da, ihren Notizblock auf dem Schoß, und sah mich an.
    »Klingt gut«, nickte ich. »Aber was genau wollen Sie damit sagen?«
    »Ich will damit sagen«, erwiderte sie, »dass ich, wenn Sie mir noch eine letzte Frage zu meiner Zufriedenheit beantworten, tun werde, was Sie verlangen.«
     
    Die Zeremonie war in vollem Gang. Das Stück, das das Orchester zu Ehren der Chemie-Nobelpreisträger gespielt hatte, verklang, und wieder trat ein Mann im Smoking an das Rednerpult, an dessen Vorderseite das Abbild Nobels prangte. Er begann mit einer Laudatio auf Sofía Hernández Cruz. Er sprach in einem eher launigem Ton, denn er hatte einen Saal voller teuer gekleideter Menschen vor sich, die von der wissenschaftlichen Leistung der Medizinerin praktisch nichts verstanden, aber dennoch unterhalten sein wollten.
    Die Kamera fing die Laureatin ein, die sich in ihrem roten Sessel aufgerichtet hatte und mit einem etwas fragenden Gesichtsausdruck zuhörte. In der auf Schwedisch gehaltenen Ansprache verstand sie zweifellos nur ihren eigenen Namen und ein paar Fachausdrücke.
    Sofía Hernández Cruz hatte, wie alle Nobelpreisträger, an einem der vorangegangenen Tage an einer Probe teilnehmen müssen, bei der jeder einzelne Schritt der Zeremonie eingeübt worden war. Sie wusste also, dass sie aufzustehen hatte, als der Sprecher sich ihr zuwandte und vom Schwedischen ins Englische wechselte. Er wiederholte die wichtigsten Punkte der Lobeshymne noch einmal, diesmal in feierlich-getragenem Ton, der Bedeutung des Moments angemessen, und schloss mit den traditionellen Worten: »Ich bitte Sie nun, vorzutreten und den Nobelpreis aus der Hand Seiner Majestät, des Königs von Schweden, entgegenzunehmen.«
    Die Trompeten schmetterten die Fanfare, die allen verkündete, dass der König sich erhob, was hieß, dass alle anderen natürlich ebenfalls aufstehen mussten.
    Großaufnahme. Die Spanierin lächelte ihr feines, ruhiges, souveränes Lächeln.
    »Meine Güte«, murmelte Hans-Olof. »Meinst du, sie wird es tatsächlich tun?«
    Ich sagte nichts, verfolgte nur, was auf dem Bildschirm geschah.
    Feierlich schritt Sofía Hernández Cruz über den blaugrünen Teppich, genau der im Zeremoniell festgelegten Bogenlinie folgend, die bei ihrem Sessel begann und bei dem großen, schlichten, von einem Kreis umschlossenen N endete, dem Signet der Nobelstiftung und Mittelpunkt der Bühne.
    Das Rednerpult mit den beiden Mikrofonen darauf, die an Schwenkbügeln hingen, war keine drei Schritte weit entfernt.
    Carl XVI. Gustaf Folke Hubertus, König von Schweden, stand zwei Fußbreit außerhalb des golden schimmernden Kreises, die lederne Mappe mit der Urkunde und die Schatulle mit der Medaille in der Hand, und lächelte ebenfalls. Wie jedes Jahr war auch dieses Mal sein Haar wieder ein wenig schütterer, als man es vom Vorjahr in Erinnerung hatte.
    Die Wissenschaftlerin näherte sich dem Signet auf dem Teppich. Der König trat ihr entgegen und streckte die Hand aus.
    Sofía Hernández Cruz ergriff sie, ergriff auch die Mappe und die Schatulle, die er ihr überreichte.
    »Nein!«, rief Hans-Olof aus.
    Der König trat einige Schritte zurück, während sich die Nobelpreisträgerin verneigte, zuerst vor der königlichen Familie, dann vor der Kommission und schließlich vor dem Publikum. Das Protokoll sah normalerweise vor, dass weibliche Nobelpreisträger

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