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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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erzählt habe.«
    Ich sah ihn erstarren. Ich hätte mir Sorgen machen müssen, dass ihn nun endgültig der Schlag treffen würde, aber auch das gehörte zu den Dingen, die mir im Augenblick schwer fielen.
    Ich schüttelte das Blatt, sodass es sich entfaltete, und hielt es so, dass Hans-Olof es sehen konnte. Es trug den Briefkopf des Justizministeriums und war an Herrn Professor Hans-Olof Andersson adressiert. »›Auf Anordnung der Ministerin für Justiz werden Strafgefangene, die wegen eines Delikts, das nicht mit der Ausübung körperlicher Gewalt verbunden war, zu einer Haftstrafe von mehr als zehn Jahren verurteilt wurden und mehr als die Hälfte dieser Strafe bereits verbüßt haben, zum ersten Dezember auf Bewährung aus der Haft entlassen‹«, las ich vor. »Und dein guter Freund Sjölander schreibt dazu: ›Das betrifft im Stockholms Fängeise deinen Schwager Gunnar Forsberg. Ich dachte mir, nach dem, wie erbittert er bei Ingas Beerdigung auf dich los ist, warne ich dich besser vor.‹ Es muss schön sein, so einen fürsorglichen Freund zu haben. Die Anordnung, habe ich mich erkundigt, wurde am ersten November erlassen, und der Brief hier datiert vom dritten November. Er hat dich also mehr als eine Woche vor deinem tränenreichen Besuch bei mir im Gefängnis erreicht.«
    Ich ließ den Brief auf den Couchtisch fallen. Hans-Olof starrte darauf, klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch, den eine unvermutete Woge an Land gespült hat. »Aber wie … woher …?«
    »Nicht du hast mich freibekommen, nachdem ich es von dir verlangt hatte, sondern du wusstest, dass ich freikommen würde, und hast daraufhin angefangen, mir eine riesige Lügengeschichte vorzuspielen.« Ich hob die Pistole wieder, richtete sie auf meinen Schwager, dieses Arschloch. »Deshalb ist jetzt die Reihe an dir, Fragen zu meiner Zufriedenheit zu beantworten, sonst, so wahr ich hier sitze, verteile ich dein zerebrales Nervengewebe über deinen Wohnzimmerteppich. Und die erste Frage lautet: Wo ist Kristina? Und ich rate dir, sag mir jetzt nicht, dass sie tot ist.«
     
    Hans-Olof atmete wie jemand, der am Verbluten ist. Seine Hände verkrallten sich ineinander, wurden bleich von der Gewalt, die er ihnen antat. Er starrte die Kante des Couchtischs an, den Brief, den faden braunen Wollteppich am Boden, das Fensterbrett mit den eingestaubten Pflanztöpfen, und kein Wort kam aus ihm heraus. Er keuchte nur, als gelte es, etwas zu Tage zu fördern, das unter ungeheuren Lasten verborgen lag, als sei das, was er herausbekommen wollte, mit seinen Knochen selbst verknotet und verwachsen.
    »Ich hab ihr immer gesagt, lauf nicht so herum«, wisperte er schließlich.
    Und schwieg wieder. Verkrallte seine Hände. Starrte. Keuchte. Das Schweigen wölbte sich rings um uns empor, als versänken wir in einem grundlosen Schlund.
    »Ich hab ihr immer gesagt, zieh dir was an. Aber sie hat nicht auf mich gehört. Hat mich nur ausgelacht.« Ein schweres Ausatmen, das den Fluss der Worte in Gang zu bringen schien. »Sie ist schon immer gern nackt herumgelaufen, schon als kleines Kind. Inga hat sie sogar dazu ermutigt. Im Winter, im Sommer, das war ihr egal. Stärkt die Abwehrkräfte. Stimmt ja auch. Und zuerst war es harmlos, sie war ein Kind … Aber je älter sie wurde, desto ähnlicher ist sie ihrer Mutter geworden …«
    Ein schluchzender Laut drang aus ihm heraus, der seinen ganzen Körper schüttelte. »Ich vermisse Inga so sehr, weißt du? Jeden Tag denke ich an sie. Jeden Morgen beim Aufwachen erschrecke ich, dass das Bett neben mir leer ist. Abends kann ich nicht einschlafen, weil sie nicht da ist, und manchmal zucke ich noch einmal hoch, wenn ich endlich am Wegdämmern bin, fahre hoch und denke, es stimmt etwas nicht, wo ist sie denn? Und ich verfluche mich selbst für meine Trinkerei damals, glaub mir, ich verfluche mich. Bis an mein Lebensende werde ich mir das nicht verzeihen können. Und inzwischen ist es mir egal, wann es zu Ende sein wird. Die Zeit mit Inga war die einzige Zeit, die gezählt hat in meinem Leben, die einzige …«
    »Kristina«, sagte ich, und mir war, als spräche ich ein Wort aus Eis.
    Hans-Olof hielt inne, erstarrte, sah aus glanzlosen Augen ins Leere. »Wie soll ich dir das erklären? Man kann es nicht erklären. Und entschuldigen kann man es schon gar nicht.«
    Das Gefühl zu vereisen breitete sich immer weiter in meinem Körper aus. Bilder zuckten durch mein Hirn, blutige Visionen, würgende Hände, ein Mädchengesicht … Nein,

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