Der Nobelpreis
fünfundzwanzig Jahre alt war der Journalist mit der dicken Brille gewesen. In dem Alter konnte man doch wohl noch ein paar Nächte durchmachen, zu viel trinken und mehr rauchen, als einem gut tat, ohne gleich tot umzufallen, oder?
Es sei denn …
Hans-Olof begriff mit jähem Entsetzen, dass er sich seit Kristinas Entführung hinsichtlich ihrer Überlebenschancen die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Genau wie hinsichtlich seiner eigenen.
Sie – wer immer sie waren – konnten es sich nicht erlauben, sie am Leben zu lassen.
Es war ganz einfach. Der Unbekannte mit der halskranken Stimme hatte ihm am Abend nach der Abstimmung erklärt, sie müssten Kristina bis zur Preisverleihung gefangen halten, damit er, Hans-Olof, keinen Aufruhr veranstaltete, der zu dem noch nie da gewesenen Eklat führen konnte, dass die Vergabe eines Nobelpreises widerrufen würde. Aber was war danach? Es musste für alle Zeiten ein Geheimnis bleiben, dass der Nobelpreis für Sofía Hernández Cruz gekauft und erpresst worden war, sonst würde das Ansehen des Preises selbst entwertet werden und damit der Vorteil verloren gehen, den die Hintermänner dieses Verbrechens daraus zu ziehen hofften. Und auch nach der Preisverleihung konnte ein Preis noch aberkannt werden.
Deswegen würden Hans-Olof Andersson und seine Tochter sterben. Vielleicht bei einem tragischen, aber unverdächtigen Unfall kurz nach dem 10. Dezember. Vielleicht auch schon früher und weniger unverdächtig, falls er den Entführern Kristinas durch sein Verhalten Anlass bot, an seiner Willfährigkeit und Schweigsamkeit zu zweifeln.
Und dass Bengt Nilsson tot war, gestorben auf ebenso tragische wie unverdächtig aussehende Weise, konnte bedeuten, dass Hans-Olof Andersson ihnen diesen Anlass schon geboten hatte.
Eine Ruhe überkam ihn, die sich wie Betäubung anfühlte. Er faltete die Zeitung sorgfältig zusammen, legte sie dorthin, wo er sie gefunden hatte, stand auf, stellte die Tasse auf das Rücknahmetablett, verabschiedete sich mit einigen höflichen Worten, und all das geradezu mechanisch wie ein Roboter. Mit Roboterschritten ging er auch zurück in sein Büro, wo er Post erledigte, Artikel konzipierte, Telefonate und Besprechungen mit seinen Assistenten führte: All das kam ihm vor, als beobachte er sich selber durch eine Milchglasscheibe hindurch, sähe die eigenen Bewegungen nur schemenhaft, sie mehr erahnend als genau sehend. Und weil Donnerstag war und ein Eintrag in seinem Terminkalender stand, dass heute sein Anzug fertig sein würde und in der Reinigung abgeholt werden konnte, endete der Arbeitstag entsprechend früher. Nicht einmal im Auto schwand das Gefühl, nach einem starr ablaufenden Programm zu funktionieren: Es war, als fände der Wagen den Weg ins Zentrum Stockholms von selbst.
Der Anzug war tatsächlich fertig und von dem Fleck nichts mehr zu sehen, aber es kostete Aufpreis, weil zusätzliche Arbeitsgänge erforderlich gewesen waren. Hans-Olof bezahlte, steckte die Rechnung sorgfältig ein und ging dann hinaus, den gereinigten und in Plastikfolie verpackten Anzug über dem Arm tragend.
Unwillkürlich sah er sich um, hielt Ausschau nach dem Mann mit den weit auseinander stehenden Augen. Aber natürlich war der heute nicht zu sehen. Da, das Café. Das Sonderangebot galt noch immer. Hans-Olof ging ein paar Schritte in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. Da war eine Art Empfang am Fuß eines der Hochhäuser, ein gläserner Kastenbau direkt vor den Fahrstühlen. Zwei braune Drehsessel aus Leder standen vor einer imposanten Theke aus Palisander, hinter der ein ebenso imposanter Portier in Uniform stand, der zwar schon weiße Haare hatte, aber immer noch die Statur eines Boxers besaß.
An der Wand prangte ein Schriftzug, der besagte, dass dieses Hochhaus das High Tech Building sei. Hans-Olof trat ein paar Schritte näher. Über den Fahrstühlen waren Bildschirme montiert, altmodische Geräte aus den Siebzigern, die absolut nicht mehr wie High Tech aussahen, und seltsamerweise waren die Aufzüge, vier an der Zahl, von 2 bis 5 durchnummeriert. Der Portier nahm einen Telefonhörer auf, hörte zu, nickte. Die Glastüren zu seinem Empfangsraum standen offen, an einer Säule daneben, hinter Glas, ließ sich an einer Anzeigetafel ablesen, welche Firmen im High Tech Building residierten. Hans-Olof las eine Menge Firmennamen, die Begriffe wie Web oder Net oder Data enthielten, außerdem die Namen zahlreicher Personen, die Consultants für irgendetwas
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