Der Nobelpreis
Büros so viel Papier verbraucht wie heute.
Allerdings genügt es nicht, ein guter Einbrecher und Safeknacker zu sein, um auch als Industriespion zu taugen. Wenn ich vor Ort bin und in Unterlagen blättere, muss ich imstande sein zu erkennen, was von Bedeutung ist und was nicht. Anders als ein Hacker, der im Zweifelsfall einfach alles kopiert, was er findet, und nachher in Ruhe Spreu von Weizen trennt, ist die Menge dessen, was ich aus einem fremden Büro mitnehmen kann, begrenzt.
Was ein Industriespion deswegen außerdem braucht, ist eine umfassende Bildung. Ein Vertrag, auf den man stößt, kann eine banale Formalität sein oder ein explosives Dokument, je nachdem, welche Namen darunter stehen. Also ist es entscheidend, diese Namen zu kennen. Ein Industriespion muss mit den Strukturen der Branche, mit der er es zu tun hat, vertraut sein, und die elementaren Fakten über wichtige Firmen und maßgebliche Personen parat haben. Er muss grundlegende Techniken, Herstellungsverfahren und Zusammenhänge kennen und die einschlägige Fachterminologie beherrschen. Und vor allem anderen muss er imstande sein, die Papiere zu lesen, auf die er stößt.
Ich spreche außer Schwedisch nur Englisch, und das eher schlechter als hierzulande üblich – aber ich kann elf weitere Sprachen lesen: Norwegisch, Finnisch, Russisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch, Portugiesisch, Polnisch, Tschechisch sowie, worauf ich besonders stolz bin, Japanisch.
Ich gestehe es: Ich liebe diesen Beruf. Nichts anderes ist mit dem Nervenkitzel zu vergleichen, den es bedeutet, in verbotene, abgesicherte Bereiche voller Geheimnisse einzudringen und sich durch Karteikästen, Aktenmappen und Briefordner zu wühlen, während es ringsum dunkel und totenstill ist bis auf das Geräusch umgeblätterten Papiers und des eigenen Herzschlags. Und dann stößt man plötzlich auf das Dokument. Auf den Plan. Die Formel. Das Geheimnis, dessen Weitergabe einen ganzen Wirtschaftszweig verändern kann.
Ich beobachtete das Kommen und Gehen in dem Glaskasten mit den antiquiert wirkenden Teakholzwänden. Nicht alle Besucher des High Tech Buildings trugen Schlips und Aktentasche oder sonstige Insignien, die sie wie Leute aussehen ließen, die dort etwas zu suchen hatten. Ich sah dicke Frauen in biederen Mänteln, die in die Aufzüge watschelten, ohne den Portier eines Blickes zu würdigen und umgekehrt. Hinter der Empfangstheke stand heute auch nicht der weißhaarige Hüne mit der Boxerstatur, den Hans-Olof beschrieben hatte, sondern ein verhutzelter alter Mann, der, egal ob er telefonierte oder mit jemandem sprach, unentwegt mit dem Kopf nickte. Das sah alles harmlos aus. Es sah aus, als bräuchte ich nur aufzustehen und hineinzuspazieren, und niemand würde mich aufhalten.
Ein Eindruck, der täuschen konnte. An der Decke waren Videokameras installiert, und zwar nicht wenige. Die Leute zückten Codekarten, wenn sie in den Aufzug traten. Der Bewegung nach, die man von dem Platz aus, an dem ich saß, im Ansatz sah, zogen sie sie durch ein Lesegerät. Ich nippte an meinem Kaffee und versuchte, zu einer Einschätzung der Lage zu kommen. Der Sinn der Codekarten bestand natürlich darin, dass jede Karte wusste, in welches Stockwerk ihr Besitzer fahren durfte und in welches nicht. Da sich aber mehrere Leute dieselbe Aufzugskabine teilen konnten, war das kein sicheres System; man konnte sich zu zwei, drei Mitfahrern gesellen, eine x-beliebige, wirkungslose Plastikkarte durch den Schlitz ziehen – praktischerweise haben ja alle diese Karten heutzutage dasselbe Format – und dann einfach zusammen mit einem der anderen aussteigen, ohne dass jemand bemerken würde, dass etwas Ungewolltes vor sich ging. Abgesehen davon, dass die Installation dieses Systems natürlich seinem Hersteller Umsatz beschert hatte, war sein Nutzen allenfalls psychologischer Natur, sprich: eingebildet.
Die Videokameras hingegen waren ein echtes Problem. Mir wurde wieder einmal unangenehm bewusst, auf welch schmalem Grat ich unterwegs war. Ich musste, ehe ich aktiv werden konnte, das Gebäude erkunden, das Stockwerk, in dem die Niederlassung von Rütlipharm ihren Sitz hatte, Wege dorthin und von dort fort und so weiter. Doch am Tag nach dem Einbruch würde man unter anderem auch die Videobänder der Überwachungsanlage sichten, und wenn ein landesweit bekannter Einbrecher wie ich auf einem davon zu sehen sein sollte, würden sich die Polizisten nur kurz angrinsen und dann die Fahndung nach mir
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