Der normale Wahnsinn - Roman
war auch ein Dezember-Baby – am 22. dieses Monats wird er achtzehn. Das Kind des jungen Paares muss gestern Abend oder heute früh zur Welt gekommen sein. Was für ein entzückendes Weihnachtsgeschenk.
Beim Anblick der beiden überfällt mich wieder der Gedanke, der mir schon kam, als ich noch neben Phils Bett saß. Ich meine die Sache, dass ich eigentlich eine Londonerin bin. Denn ich wurde hier in dieser Stadt geboren, müssen Sie wissen. Vielleicht sogar in diesem Krankenhaus, wer weiß. Dennoch habe ich nur wenige Wochen in London verbracht, denn meine Mutter gab mich zur Adoption frei. Sie hat mich also verlassen, wenn Sie so wollen. Wie ich gerade Lizzy verlasse …
Nein, das ist nicht dasselbe. Lizzy ist dreiundzwanzig Jahre alt. Und sie hat ja auch noch ihren Vater. Nein, diese beiden Fälle kann man nun wirklich nicht miteinander vergleichen.
Meine Eltern – also die beiden Menschen, die ich Zeit meines Lebens meine Eltern genannt habe – nahmen mich mit nach Yorkshire, als ich gerade einmal zwei Wochen alt war. Und dort habe ich dann die letzten zweiundfünfzig Jahre meines Lebens zugebracht – wenn man von dieser seltsamen Stippvisite hier mal absieht.
Ich hab nie versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen – mit meiner richtigen Mutter, meine ich. Wie nennt man das heutzutage …? Ach ja, meine biologische Mutter. Vor ein paar Jahren kam Lizzy mit einem Stapel Formulare nach Hause und meinte, ich solle einen Antrag ausfüllen, damit die Behörden meine leibliche Mutter ausfindig machen könnten. »Warum?«, hab ich sie seinerzeit gefragt; ich konnte beim besten Willen keinen Grund für eine solche Aktion erkennen. Was geschehen ist, ist geschehen. Es erscheint mir wenig sinnvoll, die Ereignisse von vor fünfzig Jahren wieder aufzurollen. Wer weiß, welche alten Wunden man damit aufreißt? Vielleicht auch Wunden von mir, vondenen ich bisher nicht einmal wusste. Nein, es ist das Beste, nach vorn zu schauen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Und genau das werde ich jetzt tun. Ich werde nach vorn schauen und die Vergangenheit hinter mir lassen. Ich trinke meinen Tee aus und knöpfe mir den Mantel zu – es ist kalt da draußen. Aber es gibt noch etwas zu erledigen, bevor ich dieser Stadt endgültig den Rücken kehre. Ja, es stimmt, ich kann einfach nicht aufhören, an die bedauernswerte Frau zu denken, die mit Phil in einem Saal liegt. Wie schwer muss es für sie sein, irgendwann einfach wieder nach vorn zu schauen?
Neben dem Kiosk gibt es einen Blumenladen. Das Angebot ist um diese Zeit des Tages nicht mehr allzu frisch und üppig. Ich entscheide mich für ein paar Nelken und eine Chrysantheme. Wenn der Florist das Gebinde hübsch arrangiert, sieht es vielleicht nicht mehr ganz so dürftig aus. Während er den Strauß zurechtmacht, schreibe ich eine Karte.
Sie kennen mich nicht, doch ich habe heute jemanden besucht, der mit
Ihnen im gleichen Krankensaal liegt, und dabei von Ihrem tragischen Verlust erfahren. Ich möchte Ihnen sagen, wie unendlich leid es mir tut, was geschehen ist, und dass ich in Gedanken bei Ihnen bin in dieser schweren Zeit.
Ihre
Janet Graham
Wie seltsam, ich habe die Karte gerade mit meinem Mädchennamen unterzeichnet. Hab gar nicht darüber nachgedacht, es ist einfach so passiert. Ich muss mich beeilen. Als ich die Grußkarte in den kleinen Umschlag stecke, fällt mir ein, dass ich nicht mal den Namen der armen Frau kenne. Aber ich kann nach meinem einigermaßen dramatischen Abgang unmöglich zurück in diesen Krankensaal gehen. Panik steigt in mir auf, als ich den Strauß bezahle – Ich kann schlicht und einfach nicht noch einmal in den Saal zurück. Wieder draußen entdecke ich eine vorbeieilende Krankenschwester und spreche sie einfach an.
»Entschuldigen Sie mich«, sage ich und berühre sie am Arm. »Dürfte ich Sie wohl um einen großen Gefallen bitten?«
»Um was geht’s denn?«, fragt sie nicht gerade freundlich. Aber wir sind hier ja in London, und allmählich sollte ich mich daran gewöhnt haben.
»Diese Blumen hier sind für eine Patientin, die im Rosetti-Saal liegt.«
»Ja und?«
»Ob Sie ihr wohl den Strauß bringen könnten?«
»Ich hab gerade Pause«, sagt sie.
»Es tut mir leid, Sie überhaupt damit zu behelligen, aber ich kann ihn unmöglich selbst dort abliefern. Mein Mann ist … Es ist ein bisschen kompliziert, wissen Sie.«
Schweigend taxiert sie mich einige Sekunden, dann sagt sie schließlich: »Wie heißt sie
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