Der normale Wahnsinn - Roman
mal, ob die erst gestern gelegt oder schon mit Salmonellen infiziert wurden. Wie also kann jemand wie sie die Qualität von etwas beurteilen, was nicht größer als ein Stecknadelkopf ist? Hohles Geplapper, mehr nicht. Wenn nicht die leuchtenden Augen der Schwester darauf schließen ließen, dass sie wirklich an ihre klugen Sprüche glaubt. Ich merke, wie sich meine Mundwinkel heben – zu einem Lächeln oder einem Zähnefletschen, das ist hier die Frage.
»Man braucht ja im Grunde nur eine, Ali«, doziert sie weiter.
Ja, danke, das weiß ich auch. Aber haben Sie mal einen Blick in meine Krankenakte geworfen? Produzierte Eizellen: ausreichend. Produzierte Kinder: null.
Sie nimmt meine Hand und fühlt meinen Puls. »Mr Bose wird gleich bei Ihnen sein, um sich mit Ihnen zu unterhalten«, sagt sie.
Unterhalten? Worüber sollte ich mich mit ihm unterhalten? Über meine fantastischen Eizellen? Über alle drei? Ich will nur nach Hause. Aber sie werden mich noch nicht gehen lassen. Nicht, bis ich den Arzt gesprochen und Pipi gemacht habe. Toll, was? Man kann ganze Organe transplantieren und Gliedmaßen ersetzen, aber der einzige Indikator dafür festzustellen, ob ich zur Entlassung bereit bin, ist der, ob ich selbstständig pinkeln gehen kann.
Die Krankenschwester legt meine Hand zurück in die von Paul und verlässt das Zimmer. Ich kann meinen Mann nicht ansehen. Ich weiß, auch er ist zutiefst enttäuscht, und das ist momentan alles andere als tröstlich für mich. Genauso wenig wie die Tatsache, dass wir alles – also das Gute, das Böse und den ganzen Haufen Scheiße – zusammen durchstehen. Aber was will ich eigentlich von ihm? Würde er sich den unerschütterlichen Optimismus der Schwester zu eigen machen, würde ich ihm vermutlich eine reinhauen. So wie die Dinge stehen, kann der arme Kerl also nicht gewinnen. Und weil der arme Kerl das weiß, schweigt er lieber. Insofern verharren wir in absoluter Stille, wie wir es so oft tun. Aber das passt mir irgendwie auch nicht. Verdammt, bin ich womöglich drauf und dran, langsam überzuschnappen?
Mann, leg mal ’nen Gang zu, Bose, und beweg deinen Hintern endlich hierher, du aufgeblasener, arroganter, herablassender …
Komisch, aber als Paul und ich uns seinerzeit nach einem geeigneten Krankenhaus umsahen, war die Tatsache, dass wir Ian Bose schon aus dem Fernsehen kannten, mit ein Grund dafür, dass wir uns für die Portman-Klinik entschieden haben. Bose, der Experte, der in den Medien immer dann kluge Vorträge hält, wenn die Befürworter der IVF für ihre Sache eintreten. Als wir ihn dann das erste Mal trafen, war er genauso eloquent und charismatisch wie im Fernsehen. Mann, was sind wir damals auf seine Sprüche abgefahren, haben uns fast gefühlt wie wiedergeborene Christen. Jaaaa, legen Sie Ihre vom Herrn gesegneten, heilenden Hände auf meinen Bauch, Prediger Bose!
Und wie ein aalglatter Telepfarrer aus der amerikanischen Provinz hat er es geschafft, dass wir ihm einen Scheck nach dem nächsten ausstellten, denn mein Glaube an den Mann und sein Wirken war ungebrochen. Inzwischen jedoch habe ich jegliches Vertrauen verloren. Ja, er ist nur ein aufgeblasener, arroganter, herablassender …
»Alison, wie geht es Ihnen? Sie war im OP wieder ganz fantastisch, Paul.«
Boses Stimme reißt mich heraus aus meinem mentalen Amoklauf.
»Hallo, Mr Bose«, sage ich, und ich lächle sogar.
Verdammt, wie unterwürfig und korrumpierbar man doch in Anwesenheit von Autorität werden kann.
Ali : »Möchtest du vielleicht ein Sandwich …? Oder lieber eine Tasse Tee …? Oder einen Kaffee …?«
»Nichts, danke«, erwidere ich.
Jetzt, da ich mich wieder hemmungslos vollstopfen könnte, habe ich keine Lust mehr auf Essen. Vor ein paar Stunden sind Paul und ich aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Danach habe ich den Rat des Arztes befolgt und mich ein bisschen hingelegt. Doch ich konnte das Leben nur für eine halbe Stunde ausblenden, dann bin ich wieder aufgestanden. Seitdem streunen wir durch unser großes Haus und wissen nichts mit uns anzufangen. Paul wird nicht müde, mir zu sagen, dass ich mich ausruhen soll, und ich werde nicht müde, ihm zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Mein Gott, wir haben hier so viel Platz, und doch treten wir einander dauernd auf die Füße.
Er setzt sich neben mich auf die Couch und tut so, als interessiere ihn die Uraltserie im Fernsehen, für die ich vorgegeben habe, mich zu interessieren.
»Bevor ich’s vergesse:
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