Der Novembermörder
erschöpft aus. Zum ersten Mal sah sie so alt aus, wie sie wirklich war. Aus irgendeinem Grund lief sie in einem riesigen grauen Wollpullover herum, gestrickt in einem schönen Zopfmuster. Und dazu trug sie Jeans, was Irene wirklich überraschte. Es sah nicht so aus, als wäre sie in der Lage gewesen, nach der Spurensuche aufzuräumen. Alles sah noch genauso aus wie bei Irenes letztem Besuch. Große Blumensträuße waren hier und dort in der Wohnung platziert, mit Kondolenzkarten daran. Der Blumenduft war schwer und gab bereits einen Hinweis auf die bevorstehende Beerdigung. In dem Wohlgeruch war jedoch ein herber Missklang von Blumenwasser zu spüren, das gewechselt werden sollte.
Sie gingen in die helle Bibliothek hinauf und ließen sich auf der hübschen Ledersofagruppe nieder. Sylvia biss auf einem kaputten Fingernagel herum. Sie hob ihr ungeschminktes Gesicht und sah Irene an, Mit dünner Stimme begann sie: »Können Sie sich das vorstellen? Wie ich ihn vermisse! Jedes Mal, wenn es klingelt oder jemand auf der Straße lacht, dann denke ich, er ist es. Manchmal habe ich die Illusion, er könnte einfach reinkommen und zufrieden darüber lachen, wie er uns alle an der Nase herumgeführt hat. Ich habe mir seinen Pullover angezogen. Er riecht noch nach … ihm.«
Sie schluchzte leise und ließ ihre Haargardine übers Gesicht fallen. Irene wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Und wie war das nun eigentlich mit Ivan Viktors, bitte schön? Sie entschloss sich, mit den Schlüsseln anzufangen.
»Wir haben den Schlüsselbund gefunden. Und Pirjo«, sagte sie zur Einleitung.
Die Medien würden erst bei der Pressekonferenz am Nachmittag erfahren, dass das Opfer in der Berzeliigatan Pirjo war. Man hatte das aus »ermittlungstechnischen Gründen« bisher nicht veröffentlicht. Sylvia zuckte zusammen und fragte scharf: »Sie haben die Schlüssel gefunden! Und wer hatte sie?«
»Sie steckten in der Tür in der Berzeliigatan. In der Tür zu den Büroräumen.«
»Das schlägt ja nun dem Fass den Boden aus! Dann habe ich hier die Schlösser der Wohnung ganz unnötig für mehr als zweitausend Kronen auswechseln lassen! Warum haben Sie mir nicht früher was davon gesagt? Zum Glück habe ich die in Kärringnäset noch nicht austauschen lassen!«
»Wir waren uns nicht ganz sicher, ob es auch die richtigen Schlüssel waren … aus ermittlungstechnischen Gründen.«
»Und Pirjo! Wo hat sich die Schlampe herumgetrieben? Ich will, dass sie so schnell wie möglich herkommt!«
»Tut mir Leid. Sie ist tot. Sie wurde bei der Explosion in der Berzeliigatan vor einer Woche in die Luft gesprengt.«
Das war eine reichlich brutale Vorgehensweise, aber Irene wollte sehen, wie Sylvia es aufnahm.
»Sie … Sie lügen … das kann nicht sein …«
Der Effekt war unschön. Sylvia beugte sich vor und schrumpfte vor Irenes Augen zusammen. Wieder einmal hatte Sylvias giftige und leicht hysterische Art Irene dazu provoziert, sich zu weit auf das dünne Eis zu begeben. Verzweifelt versuchte Irene weiter festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Um abzulenken, fuhr sie fort: »Die Identifizierung hat mehrere Tage gedauert. Sie war zu sehr verbrannt. Wir brauchten die Röntgenbilder ihrer Zähne, und mit ihnen konnten wir …«
»Was hat sie in der Berzeliigatan gemacht?«
Sylvias Stimme klang hohl und in ihren Augen spiegelte sich deutlich Angst. Sie hatte Angst. Die hatte sie nicht gezeigt, als ihr Mann ermordet worden war. Aber jetzt war sie voller Angst, kurz vor der Panik. Irene versuchte ruhig zu klingen, aber dabei sehr entschieden.
»Wir wissen es nicht. Das ist eine der Fragen, die ich Ihnen stellen wollte. Zuerst einmal möchten wir wissen, wie sie in den Besitz der Schlüssel gekommen ist. Soweit ich Sie verstanden habe, wussten Sie nichts von irgendwelchen Ersatzschlüsseln. Außer denen, die wir hier haben. Wir haben herausgefunden, dass diese Schlüssel im Spätsommer angefertigt wurden. Richard selbst hat sie bei Mister Minit in der Avenyn machen lassen.«
Sylvias Atem ging heftig. Ihre Augen glänzten. Sie vermied es, Irene anzusehen. Das Gefühl, dass sie irgendetwas wusste oder ahnte, verstärkte sich bei Irene.
»Ich weiß nichts von diesen Schlüsseln«, sagte Sylvia entschlossen.
Die Stimme klang jetzt fester, aber sie musste ihre Hände fest zusammendrücken, damit sie nicht zitterten. Irene spürte, dass sie jetzt nicht locker lassen durfte. Da war etwas. Sie hakte nach und formulierte ihre Frage noch
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