Der Novembermörder
was Richard jemals gemacht hat, das Henrik und mir zugute kommt. Es sei so eine Art Rentenversicherung, hat er mir erklärt. Nachdem er sechzig geworden ist, konnte er an jedem beliebigen Tag in Pension gehen und würde dann zehn Jahre lang ein Jahreseinkommen von einer Million Kronen haben. Und gleichzeitig ist es eine Lebensversicherung. Wenn Richard stirbt, sollten Henrik und ich uns zehn Jahre lang diese Summe teilen.«
»Dann fällt also die Versicherung den Hinterbliebenen zu?«
»Wie bei den meisten Altersversicherungen.«
Henrik und Sylvia würden also die kommenden zehn Jahre jedes Jahr eine halbe Million kriegen. Leute sind schon für weniger zum Mörder geworden. Nimmt man dazu noch den Rest des Vermögens, hätte Valle Reuter möglicherweise auf der richtigen Spur sein können. Wenn sich Mutter und Sohn nicht unten auf der Straße befunden hätten, umgeben von Zeugen, als Richard fiel. Irene beschloss, auf Strumpfsocken weiterzugehen.
»Und den Rest des Vermögens und der Einkünfte Ihres Mannes, wer erbt das?«
Jetzt war Sylvia vollkommen ruhig und gefasst. Vergleichbar mit einer kleinen siamesischen Katze, die gerade einen Goldfisch verschluckt hatte.
»Ich. Aber das ist ziemlich nervig. Die Anwälte sind dabei, das alles auseinander zu dividieren. Das wird eine ganze Weile dauern, sagen sie. Nur das Versicherungsgeld wird schon nächsten Monat ausbezahlt und das rückwirkend für diesen Monat.«
Es war sicher eine Illusion, aber Irene meinte ein schnurrendes Geräusch zu hören. Der Schlüsselbund war verbotenes Terrain, aber mit dem Geld und Bobo Torsson war es gut gegangen. Sollte sie mit Bobo weitermachen?
»Bobo Torsson ist auch tot. Vielleicht haben Sie ja in der Zeitung gelesen, dass er am frühen Montagmorgen ermordet worden ist? Er ist mit seinem Auto in die Luft gesprengt worden.«
Sylvia warf ihr einen uninteressierten Blick zu.
»Gesprengt? Nein. Ich lese momentan keine Zeitungen. Ich bin nicht in der Lage dazu. Ich habe genug mit mir selbst zu tun und dem, was passiert ist.«
»Wissen Sie, ob Bobo und Charlotte immer noch Kontakt miteinander hatten?«
»Keine Ahnung. Charlotte geht gern aus und genießt den Trubel.«
»Begleitet Henrik sie normalerweise, wenn sie ausgeht?«
O je, das knackte im Eis. Sylvia stellte ihre Füße auf den Boden und warf Irene einen abschätzigen Blick zu. Höhnisch sagte sie: »Henrik interessiert sich nicht für Vergnügungen. Nicht mehr seit seiner Krankheit, von der ich Ihnen erzählt habe.«
Plötzlich hatte Irene eine Idee: »Das war doch eine Hirnhautentzündung, was Henrik als Folgekrankheit bekommen hat, nicht wahr?«
»Ja.«
»Als Folgekrankheit wovon?«
»Von einer Kinderkrankheit.«
»Welcher Kinderkrankheit?«
»Mumps.«
Nichts war mehr von der kleinen, zufriedenen Powerfrau übrig, es saß nur noch eine traurige Mutter in der Sofaecke. Eine Klappe fiel bei Irene. Sie hatte einen männlichen Ausbildungskollegen in der Polizeischule gehabt, der während ihrer Ausbildungszeit Mumps bekommen hatte. Beide Hoden waren befallen gewesen und so grotesk angeschwollen, dass er nicht gehen konnte. Er hieß Carl Meier und wurde danach nur noch »Meier-Straußen-Eier« genannt. Auf einem späteren Fest hatte er Irene und Tommy anvertraut, dass er möglicherweise zeugungsunfähig geworden war. Offenbar war das eine nicht seltene Komplikation bei erwachsenen Männern, die an Mumps erkrankten. Traf das auch auf Henrik zu? Es war zwar ein Schuss ins Blaue, aber sie beschloss, es einfach zu versuchen.
»Es passiert ja oft, dass erwachsene Männer unfruchtbar werden, wenn sie Mumps haben. Waren Henriks Hoden auch betroffen?«
Sylvias Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Mit einem hässlichen Krachen zerbrach das Eis und sie fiel hinein. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und begann hysterisch zu weinen.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass Irene sie als einigermaßen stabil einstufte. Aber Sylvia weigerte sich, weitere Fragen zu beantworten, und wiederholte immer nur hartnäckig: »Gehen Sie! Sofort! Um ein Uhr muss ich zur Schneiderin und das Kleid für die Beerdigung anprobieren. Gehen Sie! Gehen Sie!«
Irene hatte einiges, über das sie nachdenken musste, als sie in einer zweitklassigen Pizzeria ein paar Häuser weiter saß und auf dem Tagesgericht herumkaute. Das bestand aus einer zähen Lasagne mit ein paar schüchternen Weißkohlstreifen in Essig. Das Eiswasser war lauwarm und der Kaffee sah
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