Der Novembermörder
einmal anders: »Sie haben also keine Ahnung, wofür er diese Schlüssel haben wollte oder ob er sie jemand gegeben hat?«
»Nein.«
Sie log. Sie log! Aber Irene traute sich nicht, sich noch einmal aufs Eis zu begeben. Noch nicht.
»Die Bombe, die das Haus zerstört hat, ist detoniert, als Pirjo die Tür zu den Büroräumen Ihres Mannes geöffnet hat. Sie hat die Tür mit dem Schlüsselbund aufgeschlossen. Wir haben sie hinter der Tür gefunden«, berichtete sie in neutralem Ton.
»Aber in den Zeitungen stand doch, dass ein junger Mann vermisst wurde!«
»Das stimmt auch. Er ist gestern gefunden worden, weiter oben im Haus. Zwei Menschen sind bei dem Brand umgekommen.«
Sylvia erhob sich vom Sofa und ging ziellos im Raum auf und ab.
Dabei rieb sie die ganze Zeit ihre Hände aneinander und seufzte schwer. Sie war äußerst aufgewühlt, das konnte Irene sehen. Aber warum? Wenn sie wüsste, wer die Schlüssel gehabt hatte, dann würde sie es doch wohl sagen? Irene versuchte es noch einmal: »Sie haben auch keinen Verdacht, wer die Schlüssel eventuell gehabt haben könnte?«
»Nein, das habe ich doch schon gesagt!«
Das Eis knackte und knirschte. Am besten, sie suchte weniger gefährliche Gebiete auf.
»Kennen Sie einen der anderen Mieter in dem Haus in der Berzeliigatan?«
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
»Sagt Ihnen der Name Bo-Ivar oder Bobo Torsson etwas?«
Sylvia runzelte die Stirn und schien tatsächlich nachzudenken.
»Das sagt mir was. Warten Sie … das war der Fotograf, der die Räume über Richard gemietet hat. Er ist ein alter Bekannter von Charlotte«, sagte sie.
Irene war so verblüfft, dass sie die Fassung verlor. Aber es gelang ihr, einen einigermaßen neutralen Tonfall an den Tag zu legen, als sie nachfragte: »Ein alter Bekannter? Was heißt das?«
»Sie hat als Fotomodell für ihn gearbeitet. Nun ja, bei dieser Modellarbeit ist wohl nicht viel rausgekommen. Aber so geht es eigentlich mit allem, was Charlotte anfängt.«
»Hatte Torsson schon sein Fotoatelier in der Berzeliigatan, als Charlotte mit ihm gearbeitet hat?«
»Nein. Sie hat ihn Richard empfohlen. Richard fand es praktisch, den gleichen Mieter für beide Wohnungen zu haben.«
»Wann war das?«
»Keine Ahnung. Das ist vielleicht drei Jahre her.«
Sylvia schlug die Arme um sich und zog die Achseln hoch, als würde sie frieren. Aber sie schien nicht bei der Sache zu sein, während sie über Bobo Torsson sprachen. Ihre Gedanken gingen offensichtlich in eine andere Richtung. Irene nahm noch einmal Anlauf.
»Der Name Lars ›Lillis‹ Johannesson, sagt der Ihnen etwas?«
»Nein.«
»So ein Hüne um die fünfunddreißig.«
»Nein.«
Zerstreut schob Sylvia ein paar heruntergefallene Blütenblätter einer lila Chrysantheme, die auf die staubige Couchtischplatte gefallen waren, zu einem kleinen Haufen zusammen. Verwirrt zerstörte sie den Haufen wieder und schien in der nächsten Sekunde ihn und auch Irene bereits vergessen zu haben. Ihre glänzenden Augen schienen ihre Umwelt gar nicht wahrzunehmen, sondern nur ihre eigenen inneren Abgründe zu betrachten. Irene hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, was Sylvia dort sah. Aber ein Blick in Sylvias Gesicht ließ sie wieder zweifeln, ob sie das wirklich wollte. Die Diskussion über den Schlüsselbund hatte Sylvia in sich selbst versinken lassen. Irene musste sie dort wieder herausbekommen. Was konnte sie zum Reden bringen? Eine leichte Ahnung sagte Irene, dass Geld Sylvia immer zum Reden brachte. Hatte Valle Reuter das nicht gesagt?
»Ach ja, Sylvia, diese Versicherung, von der Sie mir mal erzählt haben …«
Sie ließ den Satz bewusst unvollendet, um zu sehen, ob Sylvia anbiss. Zuerst schien sie gar nichts gehört zu haben, aber nach einer Weile drehte sie den Kopf und warf Irene einen überraschend scharfen Blick zu.
»Versicherung? Habe ich Ihnen etwas von einer Versicherung erzählt?«
»Ja, als wir zum ersten Mal am Telefon miteinander geredet haben. Als Sie noch in der Psychiatrie waren.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber vielleicht habe ich das ja. Ich habe da einiges an Medikamenten gekriegt und nur noch eine sehr schwache Erinnerung an die ersten Tage.«
Sie holte tief Luft und sank zu Irenes Erleichterung in der einen Ecke des Ecksofas nieder. Sie schüttelte ihre Birkenstocksandalen ab und zog die Beine unter den Körper. Wieder kaute sie an ihrem kaputten Nagel. In normalem Ton sagte sie: »Die Versicherung. Das ist wohl das Einzige von allem,
Weitere Kostenlose Bücher