Der Novembermörder
gehörte zweifellos zu den verwildertsten. Es war ein gelb verputztes zweigeschossiges Haus mit einem gewölbten Giebel neben dem Balkon. Das Haus hätte hübsch ausgesehen, wenn nicht große Putzflecken abgeblättert gewesen wären. Es war zehn Uhr vormittags. Im ersten Stock waren die Rollos zur Straße hin heruntergelassen. Die Gardinen vor den großen Panoramafenstern zur Terrasse hin waren zugezogen. Vor dem Garagentor stand ein neuer roter Golf.
Tommy rutschte fast auf den feuchten Blättern aus, die auf den glatten Gehwegplatten aus Schiefer lagen. Man musste schon aufpassen, wohin man trat; denn die Frosteinbrüche vieler Jahre hatten die Platten aufgesprengt. Der Weg zum Haus erinnerte fast an eine Miniaturausgabe einer Autobahn in San Francisco nach dem letzten Erdbeben. Tommy nickte zum Haus hin.
»Das sieht aus wie ausgestorben. Ich glaube nicht, dass sie zu Hause ist.«
Irene sah ihn leicht schelmisch an. Sie deutete auf das glänzende kleine rote Auto.
»Und was lässt dich auf den Gedanken kommen, dass die Dame zu dieser unchristlichen Zeit bereits wach ist? Jedenfalls ist sie nicht mit ihrem neuen Auto weggefahren«, stellte sie fest.
Sie stolperten zu der einstmals so schönen Teakhaustür. Mehrere Jahre ohne Pflege und Öl hatten sie grau und rissig werden lassen. Sie klingelte mehrere Male. Nach mehr als zwei Minuten hörten sie jemanden eine Treppe herunterkommen. Eine müde Stimme schrie von innen: »Ja, ja! Was ist denn los? Wer ist da?«
Irene erkannte Charlotte von Knechts Stimme. Aber sie war bei weitem nicht so wohlmoduliert wie bei ihrem letzten Treffen. Sie wartete mit einer Antwort, bis sie hörte, dass Charlotte an die Tür herangekommen war. Dann sagte sie mit lauter Stimme: »Hier ist Inspektorin Huss.«
Für einen Moment blieb es ganz still, dann begann das Schloss zu klappern. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und Charlotte fauchte: »Ist es notwendig, hier so rumzuschreien? Denken Sie doch an die Nachbarn!«
Etwas war mit ihren Augen geschehen. Die strahlenden Türkise hatten sich in zwei ganz normale Granitstückchen verwandelt. Eilig trat sie ein paar Schritte zurück, um die beiden Polizeibeamten in den überraschend engen Flur einzulassen. Fast wäre sie aus dem Gleichgewicht geraten, als sie sich schnell umdrehte und den schweren zartrosa Morgenmantel fester um sich zog. Halb erstickt sagte sie: »Ich wusste nicht, dass Sie zu zweit sind. Warten Sie hier, ich muss eben nach oben!«
Bevor die beiden noch etwas sagen konnten, war sie die Treppen zum ersten Stock hinaufgeeilt. Aber Irene hatte den Geruch nach Schnaps und Kater gewittert. Und nach Sex. Charlotte roch nach Sex. Pheromon ist ein potenter Duftstoff. Nur der Bruchteil eines Nanogramms genügt, dass die Hormone Amok laufen. Schnell warf Irene einen Blick auf die Kleider, die im Flur hingen. Und sie fand, was sie suchte. Eine hellbraune Jacke in weichem Wildleder mit Fransen an den Schultern. Ein Paar Boots mit aufragender Spitze, hohen Cowboyabsätzen und glänzenden Schnallen an den Fersen, Größe 42. Henrik von Knecht war zwar mager, aber groß. Er würde in dieser Jacke wie verkleidet aussehen. Außerdem lag sein Kleidergeschmack eher in Richtung Kaschmirwolle. Drei Paar Herrenschuhe bester Qualität und edelsten Designs in Größe 44 standen ordentlich auf dem Schuhregal: Irene machte Tommy auf ihren Fund aufmerksam, und er nickte zustimmend. Natürlich hatte er auch schon Witterung aufgenommen.
In der oberen Etage war das Rauschen einer Dusche zu hören. Schnell ging Irene ein paar Schritte weiter in den Flur hinein. Sie entschied sich für die linke Tür. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Tommy in die Rechte hineinhuschte. Die Linke führte zu einer kleinen Küche. Die Kücheneinrichtung war neu und sauber. Die Klappe der Geschirrspülmaschine war heruntergeklappt und ließ eine volle Maschine sehen. Neben dem Spülbecken standen Teller und Weingläser. Zwei Bestecke. Zwei Teller. Zwei Weingläser. Zwei geschliffene, gerade Gläser. Er war noch im Haus und es war nicht Henrik von Knecht. So leise sie konnte, eilte sie zurück auf den Flur. Die Tür, an der sie vorbeigegangen waren, als sie hereinkamen, führte in eine kleine Toilette. Die Dusche oben war verstummt und sie konnten jetzt von oben Bewegungen hören. Tommy kam zurück und flüsterte leise: »Wohnzimmer, Esszimmer und ein Arbeitszimmer.«
Die Charlotte, die nun die Treppe herunterkam, war eine ganz andere als die, die ihnen vor zehn
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