Der Novembermörder
Leben entzündet und er flüsterte ganz leise, sodass nur das Mädchen es hören konnte: ›Du musst leben. Und du sollst ein besseres Leben haben!‹«
»O Scheiße, was für bescheuerte Geschichten denkst du dir eigentlich aus!«
Jenny war von ihrem Platz aufgesprungen und ihre Augen glänzten von Tränen und vor Wut. Tommy sah sie nur ruhig an. Ohne ein Wort zog er ein dünnes, abgegriffenes Buch mit braunem Ledereinband aus der Tasche seiner Strickjacke. Irene fand, es sah vom Format her wie ein alter Taschenkalender aus. Als Tommy es in den schwachen Lichtschein hielt, war ganz unten in der rechten Ecke ein zierliches Monogramm zu erkennen. Das Gold war abgeblättert, aber man konnte immer noch die Buchstaben J. U. erkennen. Ruhig sagte er: »Du kannst es selbst nachlesen. Das hier ist Jacob Uhrs Tagebuch.«
Er reichte es Jenny. Schnell legte sie ihre Hände auf den Rücken. Sie sah das kleine Buch an, als handle es sich dabei um eine angriffsbereite Kobra. Tommy ließ sie nicht aus den Augen, als er weitersprach: »Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Mithilfe der Hebamme Sonya überlebte die kleine Sonya und wuchs heran. Im darauf folgenden Jahr gelang es Jacob, aus Deutschland herauszukommen. Er fand eine Anstellung in einem Buchladen hier in Göteborg, der auch einem Juden gehörte. Aber als er sich mit einer schwedischen Frau – Britta, einer stattlichen Fischerswitwe aus Hönö – verheiratete, fiel er bei seinem Arbeitgeber in Ungnade.«
»Aus Hönö? Da ist doch euer Ferienhaus! Hast du da die Geschichte gehört?«
Katarina erschien ungemein erleichtert, dass sie endlich einer Erklärung all des Schrecklichen näher kam, das sie an diesem Abend gehört hatte. Tommy lächelte leicht und fuhr fort: »Zum Teil. Jacob und diese Frau, sie waren beide über vierzig, als sie sich kennen lernten. Sie hatte einen Sohn gehabt, doch der war bei einem Schiffsunglück ertrunken, zusammen mit dem Vater, bei einem Sturm auf der Nordsee. Also wurde die kleine Sonya wie eine Tochter für Jacob und seine Frau. Aber Jacob wurde aus der Gemeinschaft der Juden in Göteborg ausgeschlossen. Er war nie ein besonders gläubiger Jude gewesen, deshalb konvertierte er zum Christentum. Die kleine Sonya wurde in der Svenska kyrkan konfirmiert. Sie hatte blaue Augen und wunderschön glänzendes rotes Haar. Deshalb wurde sie manchmal geärgert, aber nicht, weil sie Jüdin war. Das wusste nämlich niemand, am allerwenigsten sie selbst. Sie wusste nichts über ihre Herkunft, dachte, sie wäre Jacobs und Brittas Kind. Jacob hatte ihr nur erzählt, dass er aus Polen stammte, nicht aber, dass er Jude war. Die Zeit in Deutschland und was dort geschehen war, erwähnte er nie. Britta wusste es natürlich, aber auch sie sagte Sonya nichts. Sie erfuhr erst davon, als Jacob und Britta im Abstand von nur wenigen Monaten nacheinander starben, vor fünfzehn Jahren.«
Irene konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Plötzlich fügte sich ein Teil ins andere und sie verstand, wie alles zusammenhing. Tommy nickte ihr lächelnd zu: »Du hast es verstanden. Aber Jenny und Katarina können es nicht wissen, weil sie damals noch nicht geboren waren. Sonya ist meine Mutter. Jacob und Britta, die ich immer Opa und Oma genannt habe, sind also eigentlich mein Urgroßvater und seine Frau!«
Nur Sammies leises Schnarchen unter dem Couchtisch störte die vollkommene Stille, die sich über das Zimmer senkte. Irene wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. Das hatte Tommy ihr nie erzählt. Aber warum hätte er auch? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr Tommy fort: »Das war ein Schock für meine Mama. Sie, die konfirmiert und getraut worden war in der christlichen schwedischen Kirche, erfuhr plötzlich, dass sie eine Halbjüdin und das Resultat einer Gruppenvergewaltigung war!«
Wieder schwieg Tommy und schaute durch die Tischplatte auf Sammie hinunter. Als er fortfuhr, war seine Stimme leise und todernst: »Jenny, wenn du willst, leihe ich dir Jacobs Tagebuch. Denn es ist wichtig, dass du verstehst, warum du und ich keine Freunde mehr sein können.«
Jennys Augen waren vor lauter Wut weit aufgerissen, ihr Mund stand halb offen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Irenes Mutterherz wand sich vor Mitleid, aber sie sah ein, dass es sich hier um eine Sache zwischen Jenny und Tommy handelte. Der sprach in neutralem Ton weiter: »Du und Katarina, ihr wart bei der Taufe meiner Kinder dabei. Wir haben den Urlaub und die Wochenenden
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