Der Novembermörder
zu halten über »die Nützlichkeit für Polizisten, gewisse Grundlagen in der Selbstverteidigung zu haben«. Es war ein überheblicher Stockholmer gewesen, der den kleinen Hosenscheißern zeigen wollte, wie sich so ein richtiger Ninjaheld verteidigte! Er rief den schmächtigsten Jungen des Jahrgangs zu sich, einen sehnigen Burschen aus Småland, der noch nie in seinem Leben irgendwelchen Kampfsport trainiert hatte. Dafür gehörte er der schwedischen Nationalmannschaft für Tischtennis an. Ihm wurde gesagt, er sollte den Lehrbeauftragten von hinten mit einem Würgegriff angreifen, was er auch gehorsam tat. Sofort packte der Herr aus Stockholm die linke Hand des Tischtennisspielers, drehte sie um neunzig Grad, drückte sie ihm fest gegen die Schulter und warf ihn mit einem O-soto-otoshi auf die Matte. Doch dabei machte er einen Fehler: Sehnige Burschen aus Småland drückt man nicht einfach so zu Boden. Und schon gar nicht, wenn sie zur Nationalmannschaft im Tischtennis gehören. Der Junge wurde wütend und wehrte sich, woraufhin sein Schultergelenk aus der Kapsel sprang. Das tat verdammt weh, und der Arme krümmte sich auf der Matte. Die Vorführung musste unterbrochen und der Polizeischüler ins Krankenhaus gebracht werden, um das Schultergelenk wieder einzurenken.
Irene war stinkwütend gewesen. Während der Mittagspause hatte sie einen Beschluss gefasst. Es war gegen die Grundregeln ihres Sports, aber dieser Ausbilder musste in seine Schranken verwiesen werden. Er hatte einen Griff angewandt, der zum blauen Gürtel gehörte, ein viel zu hoher Schwierigkeitsgrad für einen Anfänger.
Nach der Mittagspause kam der Ausbilder wieder in den Gymnastikraum. Mit einem schiefen Lächeln hoffte er, dass »der kleine Unfall sie nicht von weiteren Übungen abgeschreckt habe«. Niemand antwortete, die Stimmung war gedrückt. Schnell wandte der Ausbilder sich direkt an die Schüler und fragte: »Jemand, der den Griff verstanden hat und ihn ausprobieren will?«
Ha, direkt in die Falle getappt! Irene stand auf, bevor ihr jemand zuvorkommen konnte. Mit gespielter Scheu schlug sie ihre Augen nieder und sagte in ihrem breitesten Göteborger Akzent: »Ich kann es ja mal versuchen.«
Die Spannung unter ihren Mitschülern wuchs, aber der Ausbilder merkte nichts davon. Er war nur deutlich verunsichert, als er sah, dass sie fast zehn Zentimeter größer war als er. Mit verkniffener Miene hob er die Arme hoch, um bei ihr den Würgegriff von hinten ansetzen zu können. Nur im Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihre Halsmuskeln angespannt, mit dem linken Bein einen Schritt hinter ihn gemacht und sein Bein gepackt. Das zog sie dann mit einem schnellen Griff vor, ließ ihn fallen und ging selbst auf Distanz.
Der Jubel und das Klatschen wollten gar kein Ende nehmen.
Der ausgezählte Ausbilder versuchte die Initiative wieder an sich zu reißen, noch während er auf dem Rücken auf der Matte lag: »Gut, sehr gut! Noch jemand, der es versuchen will?«
Die Buhrufe nach diesem Kommentar waren nicht mehr zu überhören. Er schlich durch die Tür hinaus. Das war das erste und letzte Mal, dass er sie mit seiner Anwesenheit beehrte.
Irene musste bei der Erinnerung schmunzeln. Fast hätte sie darüber vergessen, beim Jörnbrottsmotet auf die Västerleden abzubiegen und wäre weiter Richtung Särö gefahren. Ihre Augenlider waren schwer und sie sehnte sich nach ihrem Bett.
Hinter der Tür saß Sammie und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Er sprang hoch, hüpfte und zeigte mit seinem ganzen Körper, wie sehr er sich freute, dass sie gekommen war. Plötzlich hielt er inne und drückte seine Nase fest gegen die Tür. Er warf ihr einen auffordernden Blick zu: »Raus. Muss Pipi machen. Dringend!«
Mit einem Seufzer band sie ihm das Halsband um und ging hinaus in die Nacht. Nach ein paar Minuten fiel ihr ein, dass sie keine Plastiktüten mehr in der Tasche hatte. Wenn jetzt was passierte, mussten sie wohl auf die Dunkelheit und die späte Stunde bauen und schnell den Tatort verlassen.
»War das der Grund, dass es gestern so spät geworden ist?«
Krister hielt die Göteborg-Posten direkt unter Irenes verschwommenen Blick. Sie saß am Frühstückstisch und versuchte wach zu werden. Es war fast sieben. Die Töchter plumpsten an den Tisch. Der morgendliche Duschfight war folgendermaßen ausgefallen: Katarina Erste, Krister Zweiter, Jenny Dritte und sie selbst Letzte. Krister musste zusehen, dass er einen neuen Thermostaten für die Dusche im
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