Der Novembermörder
suchten, übers Wochenende frei hatte. Wahrscheinlich war er in seinem Ferienhaus in Bengtsfors. Nein, dort gab es kein Telefon. Aber sie konnte die Nummer seiner Wohnung hier in der Stadt kriegen. Irene bedankte sich und legte auf. Wie erwartet, ging bei der Privatnummer des Fahrers niemand ans Telefon. Sie wandte sich ihren beiden Kollegen zu.
»So, jetzt gehen wir nach Hause. Ich versuche im Laufe des Wochenendes, den Taxifahrer zu erwischen. Aber morgen Vormittag bin ich mit den Zwillingen in der Stadt. Das ist schon Tradition. Wir wollen uns die Weihnachtsschaufenster angucken. Ich hab ihnen versprochen mitzukommen. Eigentlich hatte ich ja gedacht, sie wären inzwischen zu groß, um noch mit ihrer alten Mutter loszuziehen. Aber sie haben mich gefragt, ob ich nicht mitkommen könnte.«
Und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie sich darüber riesig gefreut und war richtig geschmeichelt gewesen.
KAPITEL 18
Irene Huss wachte mit einem Ruck auf. Sie meinte leises Weinen zu hören. War Jenny aufgewacht und hatte sie wieder angefangen zu weinen? Vorsichtig schlich sie auf den Flur und lauschte an der Tür ihrer Tochter. Alles war still. Als sie durch den Türspalt spähte, konnte sie ruhige Atemzüge und ein Schnaufen hören. Das Schnaufen kam von Sammie. Er lümmelte sich auf dem Rücken in Jennys Bett, die Pfoten in die Luft gereckt. Sein Frauchen lag bedrohlich weit am Rand, aber Irene war nicht beunruhigt, nur gerührt. Es tat Jenny gut, die Nähe ihres Hunds zu spüren. Es war ein anstrengender Freitag für sie gewesen.
Irene war gegen zehn Uhr nach Hause gekommen. Am liebsten hätte sie sich nur eine große Tasse Tee und eine Scheibe Brot gemacht und wäre danach ins Bett gekrochen. Aber daraus wurde nichts. Zumindest nicht gleich.
Sammie hatte sie bestürmt, aber er war nicht so fröhlich wie sonst gewesen. Sein Schwanz hing traurig nach unten, und er winselte und jammerte, statt wie sonst zu bellen. Ging es ihm nicht gut oder war er krank? Sie beugte sich zu ihm und begann ihn zu kraulen, während ihre Hände über seinen Körper strichen, um herauszufinden, ob es ihm irgendwo wehtat. Da hörte sie Schluchzen und Katarinas Stimme aus dem Wohnzimmer.
»Die Alte sieht doch aus wie eine widerliche Pop-Tussi!«
Eine Pop-Tussi. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Und wer sah so aus? Irene erhob sich, warf im Vorbeigehen ihre Lederjacke auf den Garderobenhaken und ging zur Wohnzimmertür. Katarina hockte vorgebeugt auf dem äußersten Rand des Sessels und redete auf Jenny ein, die bäuchlings auf dem Sofa lag und vor Schluchzen zitterte. Ihren kahlen Kopf hatte sie unter einem Kissen versteckt, das sie umklammerte. Katarina hatte nicht bemerkt, dass Irene nach Hause gekommen war, und auch nicht, dass sie jetzt ins Zimmer trat. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, ihre Schwester zu trösten.
»Mensch, es gibt doch tausend andere Kerle, und zwar viel geilere und tollere! Und tausend andere Bands. Die bessere Musik machen. Und wenn du keine Skinheadmusik spielen willst, kannst du dir doch die Haare wieder wachsen lassen. In zwei Monaten hast du so lange Haare wie Marie Fredriksson von Roxette! Und wir können sie bleichen. Das ist doch supergeil! Blond gefärbte Stoppeln! Und solange die Haare noch wachsen, können wir einfach sagen, dass du Krebs hast. Die Haare sind dir wegen der Zellgifte und irgendeiner Strahlenbehandlung ausgefallen … Au! Sag mal, spinnst du?«
Mit einem Schrei sprang Jenny hoch und warf Katarina das Kissen mitten ins Gesicht. Sie war stinkwütend. Die Tränen liefen ihr aus den weit aufgerissenen Augen. Aber der Orkan war inzwischen am Abflauen, denn sie beendete ihre Attacke nicht. Als sie Irene erblickte, sprang sie auf sie zu und warf sich mit aller Kraft in ihre Arme. Und weinte. Weinte hemmungslos, wortlos. Weinte ihre erste verschmähte Liebe aus sich heraus, die ersten enttäuschten Hoffnungen. Als Jenny ihr in die Arme sprang, meldete sich Irenes angeknackste Rippe, aber sie zeigte den Schmerz nicht, sondern begann stattdessen, wortlos ihre Tochter in den Armen zu wiegen und ihr dabei sanft über den kahlen Kopf zu streichen.
Etwas später saßen die drei um den Küchentisch, tranken Tee und aßen Eierbrote mit Kaviarpaste. Stück für Stück kam die ganze Geschichte heraus. Jenny hatte Marcus gesagt, dass sie bei den Demonstrationen zum Todestag von Karl XII. nicht mitmachen wollte. Sie wollte keine Schlagworte rufen, zu denen sie nicht stand. Aber sie
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