Der Novembermörder
Pferd.«
Das Pferd? Irene fiel ein, dass Tommy etwas von Sylvia von Knechts krankem Pferd erzählt hatte. Machte Henrik sich deshalb Sorgen? Wahrscheinlich. Mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte, sagte sie deshalb langsam und mit sanfter Stimme: »Keine Sorge. Der Tierarzt war da und hat ihm eine Penizillinspritze gegeben. Es wird bald wieder gesund.«
Wieder kämpfte er darum, die Augen zu öffnen, diesmal aber vergebens. Ein Hustenanfall erstickte ihn fast. Er japste nach Atem und röchelte: »Schwachsinn! Das kaputte Tang-Pferd!«
Dann versank er in Bewusstlosigkeit. Das kaputte Tang-Pferd? Plötzlich wurde Irene sich bewusst, dass sie in Unmengen von Scherben stand. Sie schaute auf den Boden und entdeckte einen Pferdekopf aus Terrakotta. Vorsichtig hob sie ihn hoch. Das eine Ohr war abgeschlagen, ansonsten war er unbeschadet. Es war ein edel geformter Pferdekopf, der genau in ihre Handfläche passte. Die Nüstern waren gebläht und das Maul zu einem Kampfeswiehern geöffnet. Die angespannten Muskeln am Hals vibrierten vor Leben, Kraft und Stärke. Aber den Körper gab es nicht mehr. Er war zerschlagen und lag zwischen den anderen Scherben auf dem Boden.
KAPITEL 20
Die Stimmung im Raum war dicht und angespannt. Nur die Staatsanwältin Inez Collin sah in ihrem dunkelblauen Kostüm und der weißen Seidenbluse kühl und unberührt aus. Selbst Kommissar Andersson war erhitzt, auch wenn er kein Fieber mehr hatte. Das hatte er am Sonntagabend vertrieben. Doch die Erkältung hing mit dickem Schnupfen und Bluesstimme noch immer an ihm. Er war froh, nicht so viel reden zu müssen. Das konnten die drei Inspektoren übernehmen. Fredrik war derjenige, der am meisten und am lebhaftesten berichtete. Seine Augen glänzten und die Haare standen ihm zu Berge. Er war seit vierundzwanzig Stunden nicht aus seinen Kleidern gekommen, genau wie Birgitta und Irene. Sie hatten sich ein Zimmer im Präsidium geben lassen und kaum drei Stunden dort geschlafen. Was Irene betraf, hatte sie nicht einmal das geschafft. Die Sorge, Hoffa könnte sterben, nagte an ihr. In den USA waren Polizeibeamte, die Hell’s-Angels-Mitglieder verletzt hatten oder in tödliche Schusswechsel mit ihnen verwickelt waren, selbst ermordet worden. Es wäre nicht klug, ihren Namen zu sehr ins Spiel zu bringen und möglicherweise die Erste im Norden zu werden. Deshalb hatte sie beschlossen, eine gereinigte Fassung der Ereignisse von sich zu geben. Nur die drei wussten, wie es eigentlich zugegangen war. Sonst sollte niemand, weder auf unterer noch auf höherer Ebene, jemals die ganze Wahrheit erfahren. Sie schauten sich nicht einmal gegenseitig an, als Irene ohne das geringste Zögern in der Stimme berichtete, wie Hoffa seinem Schicksal begegnet war.
»Ich war unbewaffnet, als ich auf den Balkon geklettert bin. Das Nachtsichtgerät hatte ich dabei. Damit konnte ich sehen, wie sich der mit dem Messer bewaffnete Hoffa von hinten an Birgitta heranschlich. Diese stand mit dem Rücken zu dem dunklen Zimmer und dem Balkon. Wir waren ja davon ausgegangen, dass Lillis allein war! Ich musste etwas tun, und genau in dem Moment stieß ich mir den Zeh an dem Sonnenschirmfuß. Irgendwie gelang es mir, ihn durch die Glasscheibe zu werfen. Das ergab eine richtiggehende Explosion, und Hoffa und Birgitta zuckten zusammen. Sie drehte sich um, erblickte Hoffa und zielte mit der Pistole auf ihn. Er machte ein paar Schritte rückwärts mit gezogenem Messer, und plötzlich rutschte er auf den Glasscherben aus. Er fiel Hals über Kopf nach hinten und … hatte Pech. Eine große Glasscherbe bohrte sich ihm tief seitlich in den Nacken.«
Sie verstummte, und Tommy fuhr fort: »So weit ich den Berichten heute Morgen entnehmen konnte, durchtrennte sie eine der Hauptschlagadern. Der Blutverlust war gewaltig. Er liegt im Koma, die Ärzte wissen nicht, wie seine Zukunftsaussichten aussehen. Aber es steht schon fest, dass er irreparable Hirnschäden davontragen wird.«
»Wie schön! Dann kann er ja weiterhin Vizepräsident der Hell’s Angels bleiben!«
Natürlich war es Jonny, der mit dieser Bemerkung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Mürrisch hatte er erklären müssen, warum er am Sonntagnachmittag nicht erreichbar gewesen war. Er hatte sich mit seinen beiden jüngeren Kindern »Pocahontas« angesehen.
Hans Borg hatte sich den ganzen Sonntagabend den Kopf zerbrochen, wo denn alle geblieben waren. Als er Birgitta vor Lillis Haus um sechs Uhr ablösen wollte, war sie nicht
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